Reden

Das Beste aus „Erzählte Heimat“ – Rückblick auf eine Zeitreise durch 25 Dorf- und Stadtgeschichten


Rede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, anlässlich der Veranstaltung unter dem Motto: Das Beste aus „Erzählte Heimat“ – Rückblick auf eine Zeitreise durch 25 Dorf- und Stadtgeschichten

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23/04/2014

Mehr sehr geehrten Damen und Herren,

es freut mich sehr, dass Sie der Einladung zum heutigen Abend gefolgt sind. Diese Zeitreise durch die 25 Dorf- und Stadtgeschichten war eine sehr spannende Geschichte.  Ich hatte das Vergnügen, die 25 Termine alle persönlich mitzuerleben. Nachdem ich im vergangenen Sommer schon einmal die 140 Ortschaften unserer Heimat besucht hatte, war dies ein erneutes Highlight. Es ist immer wieder faszinierend zu hören, was die Menschen alles aus ihrer Ortschaft zu berichten wissen.

Wir hatten diese Tour durch die 25 Altgemeinden organisiert, um im Rahmen des Doppeljubiläums der Deutschsprachigen Gemeinschaft „40 Jahre Parlament – 30 Jahre Regierung“ die Wurzeln unserer Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen.  Das ist zweifellos bei dieser Runde auf eindrucksvolle Weise gelungen. Die Wurzeln der Menschen hier in Ostbelgien – aber sicherlich nicht nur hier – liegen in der jeweiligen Ortschaft, da wo sie leben, wo sie herkommen oder wo sie hingezogen sind, ganz unabhängig davon, ab wann jemand definitiv als „Eingeborener“ einer Ortschaft gilt. Dazu könnte ich als Zugewanderter Mottes, der über 30 Jahre in Eupen lebt, eine Menge erzählen.

Die Wurzeln der Menschen liegen tatsächlich in den Ortschaften. Bei den Vorbereitungen zu dieser Runde sind wir systematisch vorgegangen, indem wir uns zunächst einmal angeschaut haben, was alles an Chroniken in den letzten Jahrzehnten über die Ortschaften geschrieben worden ist.  Dabei haben wir weit mehr als 200 Chroniken entdeckt. Es war sehr begeisternd zu sehen, was da alles „ausgegraben“ wurde.  Als „Fundgrube“ dienten übrigens das Eupener Staatsarchiv, das Medienzentrum der DG mit seinen angeschlossenen Pfarrbibliotheken,  die Vereinigung für Kultur und Geschichte im Göhltal, der Eupener Geschichts- und Museumsverein, der Grenzecho-Verlag, der Geschichts- und Museumsverein „Zwischen Venn und Schneifel“ mit seinem gesamten Archiv sowie die wertvollen Bibliographien von Werner Miessen. Alle Titelseiten sowie die wichtigsten Informationen zu diesen Chroniken liegen übrigens hinten auf dem Tisch zur Ansicht aus.

Von Sankt Vith kann man noch etwas lernen.  In Sankt Vith gibt es – das ist den Wenigsten hierzulande bekannt – eine weltweit bekannte Firma, die den Namen Puratos trägt und die dort auf dem ehemaligen Golfplatzgelände ein internationales Schulungszentrum für Bäcker errichtet hat. Dort wird Bäckern beigebracht, regionale lokale Brote anhand von Brotenzymen zu backen, die aus aller Herren Länder gesammelt werden. So kann man in Sankt Vith süditalienisches Brot backen, weil man die natürlichen Bestandteile dazu hat. Diese Firma hat einen wunderbaren Werbespruch, an den ich mich erinnert habe, als ich vor einiger Zeit von der belgischen Botschafterin in Kiew erzählt bekam, dass diese Firma auf der Krim ein ukrainisches Unternehmen gekauft hat.  Wie mag es übrigens zurzeit um diesen Betrieb bestellt sein?  Dieser Werbeslogan ist wirklich phantastisch: „Die Zukunft des Brotes ist seine Geschichte“. Das kann man auch ein klein wenig für unsere Deutschsprachige Gemeinschaft und ihre Ortschaften sagen.

Wenn wir uns mit der Zukunft Ostbelgiens beschäftigen wollen – das ist eine Aufgabe, der wir uns alle immer wieder aufs Neue stellen müssen – haben wir alles Interesse daran, uns unsere Heimat durch die Brille der Geschichte anzuschauen. Das kann man kaum besser, als wenn man sich in diese über 140 Ortschaften begibt.  Es besteht sogar eine Ortschaft, die überhaupt keine Einwohner hat, nämlich Mackenbach.  Dort gibt es nur eine Kirche und einen Friedhof. Selbst die Halle Ourgrundia, die in den letzten Jahrzehnten u.a. durch den Karneval sehr bekannt geworden ist, liegt nicht mehr auf dem Gebiet von Mackenbach. Die größte Ortschaft in der DG ist natürlich Eupen. Wobei man sich in Eupen die Frage stellen muss, ob Eupen eine einheitliche Ortschaft ist oder ob es nicht sehr große Unterschiede zwischen Nispert, Unterstadt, Oberstadt und … Kettenis gibt! Das ist mir bei meiner Sommertour ganz besonders aufgefallen. Wir hatten den Termin mit der Gruppe aus der Unterstadt, die sich um den Temsepark kümmert, zufälligerweise am gleichen Tag wie das Treffen mit der Dorfgruppe Kettenis.  Das waren zwei verschiedene Welten.  Zwischen diesen beiden Treffen lagen geistig mindestens Tausend Kilometer.  Konkret ging es um den Gebrauch des Wortes „Fremder“.  In der Unterstadt waren das die vielen Ausländer, die dort leben und um deren Präsens im Temsepark man sich sehr intensiv kümmert. Als in Kettenis von Fremden die Rede war, habe ich gar nicht gewagt zu fragen, ob mit Fremden die Chinesen, die Tschetschenen oder die Afrikaner gemeint seien. Dort waren das die „Zugezogenen“.  Beide Gruppen haben zu diesen Themen sehr interessante Aussagen gemacht.  Das macht die Vielfalt der Deutschsprachigen Gemeinschaft aus: Eine kleine Region, aber eine große Vielfalt, wenn man an die Wurzeln herangeht… an die Ortschaften.  Das sollten wir in Zukunft noch viel systematischer anpacken, als wir das bisher schon getan haben.

Die Ortschaften spielen seit eh und je für die Deutschsprachige Gemeinschaft eine große Rolle. Nirgendwo anders in der Welt hat es eine gesetzliche Regelung gegeben, dank derer Kirchenchöre und Musikvereine direkt von einer staatlichen Behörde einen Zuschuss bekamen. Das war mehrere Jahrzehnte lang in der DG der Fall. Wir haben das vor einigen Jahren geändert und die Mittel für die Grundfinanzierung der Vereine an die Gemeinden übertragen.  Wenn man sich unsere Gegend etwas näher anschaut, kommt man auf viele interessante Feststellungen.  Die erlebten Geschichten, die viele Menschen in ihrem Gedächtnis und ihrem Herzen aufbewahren, werden nur selten und unter ganz besonderen Voraussetzungen erzählt und einem Publikum vorgetragen.  Bei der Runde durch die Altgemeinden haben wir das fünfundzwanzig mal erlebt.  Wir haben sehr dramatische Geschichten gehört, u.a. Kriegserlebnisse, die wirklich unter die Haut gingen. So z.B. in der Halle Ourgrundia, in der sich die Menschen aus den sieben umliegenden Dörfern regelmäßig treffen.

Wenn man sich diese Ortschaften etwas näher anschaut, wird man feststellen, dass es ein paar Dinge gibt, die sehr prägend sind. Das ist das Erlebte. Das sind die Vereine. Das ist das Geschehen in der Freizeit oder an der Arbeit. Das, was in den Kneipen passiert, gehört ebenfalls dazu. Deshalb ist das von Radio Contact herausgegebene Kneipenverzeichnis auch so wichtige und interessant.  Den ersten Stamm für diesen Inventar wurde bereits vor über fünfzehn Jahren angelegt.  Damals gab es noch über 100 Kneipen mehr als heute.  Ich weiß nicht, ob bei der zweiten Auflage dieses Kneipenverzeichnisses wirklich mehr Kneipen aufgelistet sein werden.  Ich befürchte, dass es nicht mehr, sondern weniger werden.  Neben der Kneipe gab es früher auch noch ein Geschäft in fast jedem Dorf.  Viele haben im Laufe der Zeit schließen müssen.  In gewissen Ortschaften gibt es nun wieder Menschen, die den Mut haben, ein Geschäft zu eröffnen.  In diesen Ortschaften entsteht nach relativ kurzer Zeit eine völlig neue Dynamik.  Diese Geschäfte funktionieren aber natürlich nur dann, wenn die Menschen nicht nur sagen, dass sie erfreut sind, dass wieder ein Geschäft im Dorf ist, sondern dort auch effektiv einkaufen. Von der Freude alleine kann der Laden nicht leben.  Auch die Schulen sind für die Dörfer sehr wichtig. Das ist eine komplexe Angelegenheit. Die DG hat europaweit die günstigsten Normen zum Erhalt von Schulen. Das sind beispielsweise für Kindergärten nur sechs Kinder. Das ist europaweit einzigartig, genau so die vier Schwimmbäder in unserer Region. Die deutschen Normen liegen bei höchstens ein Schwimmbad für Hunderttausend Einwohner.  Nach diesen Normen gäbe es in Kelmis, Eupen, Bütgenbach und St. Vith kein einziges Schwimmbad.

Von sehr prägender Bedeutung sind auch die Kirchen und Kapellen. Davon haben wir deren 120 auf einer Fläche von 854 Quadratkilometer, wovon 10% bebaut sind. Also auf 85 Quadratkilometer 120 Kirchen.  Das ist eine sehr beeindruckende Dichte. Dasselbe kann man übrigens von den Friedhöfen sagen. Wir haben 58 Friedhöfe. Vor wenigen Tagen wurde in Sankt eine sehr interessante Studie über die Friedhöfe in der DG vorgestellt.  Sie umfasst knapp 1.200 Seiten und ebenso viele Bilder.  Jeder, der sich das einmal anschaut, wird von dieser Bestandsaufnahme begeistert sein.  Auch wenn er schon oft da war, wird er völlig neue Dimensionen erkennen.  Die Friedhöfe sind beeindruckende Zeugen der Geschichte einer Ortschaft.  Sie sind auch Zeugen des Zusammenhaltes in einer Ortschaft.  Das ist besonders wichtig.  Wenn in einer Ortschaft ein Friedhof gut unterhalten ist und nicht schlampig herumdümpelt, kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass in dieser Ortschaft ein ziemlich guter gesellschaftlicher und sozialer Zusammenhalt herrscht, weil die Menschen den Umgang mit dem Tod und den Vorfahren sehr ernst nehmen.

All das passiert in den Ortschaften und hat viel mit der Zukunft zu tun. Wir müssen uns die Frage stellen, wie die Ortschaften in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren aussehen werden. Warum müssen wir uns diese Frage heute stellen? Wenn wir diese Trends nicht vorwegnehmen und proaktiv reagieren, dann finden Entwicklungen statt, die unsere Nachfahren nicht erfreuen werden. Wir haben weltweit einen massiven Trend zur Verstädterung. Die internationalen Studien sagen Erschreckendes vorher.  Wir müssen verhindern, dass in den Dörfern zukünftig nur noch alte Menschen leben, die keiner Tätigkeit mehr nachgehen und alle anderen in die Städte ziehen.  Wenn wir verhindern wollen, dass die Ortschaften mehrheitlich aus Häusern bestehen, die irgendwelche relativ betuchten Menschen aufgekauft haben, um dort ihr Wochenende zu verbringen, dann müssen wir sehr viel dafür tun, dass die Grundlagen unserer Gemeinschaft, die Ortschaften, zukunftsfähig bleiben und sich auch in Zukunft weiterentwickeln. Das wird nur gelingen, wenn wir die richtigen Schlussfolgerungen aus der Geschichte der Ortschaften ziehen.  Dieser Aufgabe stellt sich die Deutschsprachige Gemeinschaft, gemeinsam mit den neun Gemeinden des Gebietes deutscher Sprache, eigentlich jetzt schon tagtäglich.  In Zukunft wird sie dies noch sehr viel intensiver tun müssen.  Projekte wie „100 Dörfer – 1 Zukunft“ , der Dorfwettbewerb, die ländliche Erneuerung, das Inventar über Dialekte und Brauchtümer sind nur einige Beispiele aus den letzten Jahren. All das ist sehr wichtig, aber genügt noch nicht.  Die Ortschaften müssen so weiterentwickelt werden, dass sie attraktive Lebensmittelpunkte bleiben, dass es dort die Möglichkeit gibt, eine Beschäftigung zu finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und auf all die Dienstleistungen zurückzugreifen, die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Recht oder zu Unrecht von dem modernen Leben erwarten.

Da können wir als Deutschsprachige Gemeinschaft sehr viel tun. Da können die Gemeinden auch sehr viel tun. Da werden wir vor allem in wenigen Tagen noch sehr viel mehr tun können, wenn die Übertragung einer neuen Zuständigkeit an die Deutschsprachige Gemeinschaft Wirklichkeit geworden ist, nämlich die Übertragung der Ständigkeit für das Gemeindegesetz. Das ist eine juristische Angelegenheit von großer praktischer Bedeutung.  Durch gleichlautende Dekrete des wallonischen Parlamentes und des Parlamentes der DG werden wir für unsere Gemeinden völlig autonom werden und in Zukunft das Gemeindegesetz abändern können.  Jede Veränderung des Gemeindegesetzes erinnert an die Zeit vor den Gemeindefusionen von 1976 und an die Abschaffung der Gemeindesektionen, die bis 1963 bestanden haben. Diese Geschichte ist bei vielen noch lebendig, die den Verlust der früheren Eigenständigkeit  bedauern.

Dank der neuen Zuständigkeit können wir in der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein neues Modell für die Organisation der Gemeinden ausarbeiten. Natürlich werden wir weder die Gemeinden abschaffen noch die Altgemeinden wieder auferstehen lassen. Wir können jedoch innerhalb der Gemeinden den einzelnen Ortschaften sehr viel mehr organisierte, rechtlich abgesicherte Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten geben als das bisher der Fall ist. Das ist etwas, was den Tätigkeiten von Dorfgruppen, wie z.B. in Kettenis, Mürringen, Elsenborn, Crombach oder Bracht neue Entfaltungsmöglichkeiten verleihen würde.  In jeder der 1976 fusionierten Großgemeinde kann dies dank einer solchen Erneuerung und  Weiterentwicklung des jetzigen Gemeindegesetzes in wenigen Tagen, mit Wirkung ab 1. Januar 2015, Wirklichkeit werden. Das ist meines Erachtens eine der großen Zukunftschancen unserer Deutschsprachigen Gemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten. Diese sollten wir in den nächsten fünf Jahren am Schopfe ergreifen und etwas Vernünftiges daraus machen. So ergibt sich aus dem Umgang mit der Geschichte der Dörfer letztlich der Anlass, der Denkanstoß und auch die Motivation, um sich mehr um ihre Zukunft zu kümmern.  Dazu ein konkretes Beispiel: Ich kenne kaum einen, der sich nicht irgendwie über den Urbanismus, die Raumordnung und die Schwierigkeiten oder Auflagen bei Baugenehmigungen ärgert. Sehr oft zu Recht, manchmal zu Unrecht. Das Parlament und die Regierung der DG sowie viele Bürger sind davon überzeugt, dass bei einer Übernahme dieser Zuständigkeit durch die Deutschsprachige Gemeinschaft zwar weiterhin Regeln zu respektieren sein werden. Diese müssen jedoch der Gegend angepasst und nicht Ausdruck einer nicht nachvollziehbaren Entscheidung oder sogar irgendeiner Willkür sein.  Wenn wir die zwei Dimensionen kombinieren, so wie das z.B. mit den Ortsgemeinden in Rheinland-Pfalz der Fall ist, können wir den Dörfern wieder eine gewisse Mitsprache bei der Gestaltung des Urbanismus geben und die Bürger mitentscheiden lassen, wie die Häuser in ihren eigenen Dörfern aussehen sollen.  Auf diese Weise entsteht eine ganz andere Akzeptanz als wenn das irgendwo im Fernen Namur, im fernen Eupen oder selbst in der jeweiligen Gemeinden beschlossen wird. Die Beteiligung der Menschen an solchen Entscheidungsprozessen führt zu einer wirklich interessanten, gelebten und zukunftsträchtigen Bürgerbeteiligung.

Das waren einige Überlegungen, die ich am Schluss dieser sehr spannenden Runde durch die 25 Altgemeinden unserer Heimat formulieren wollte. Ich habe diesen Ausflug in die Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft, in die „Erzählte Heimat“ als eine ganz große Quelle und einen großen Inspirationsschub für neue Ideen zur Gestaltung der Zukunft unserer Heimat erlebt.

Wir werden sicherlich in Zukunft noch oft die Gelegenheit haben, darüber zu reden und weiter zu diskutieren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!