Dankesrede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der DG, anlässlich der Verleihung des Kaiser-Maximilian-Preises 2013
(Europapreis für Regional- und Kommunalpolitik des Landes Tirol und der Stadt Innsbruck)
08/05/2013
Reden-2013-05-08-Dankesrede Maximilianpreis Innsbruck (626.9 KiB)
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
Sehr geehrter Herr Botschafter,
Werte Festversammlung,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Verleihung des heutigen Preises erweckt in mir eine Vielzahl von unterschiedlichen Emotionen, die sich in meiner Brust um die Hoheit über meine Gefühlslage streiten. Um welche Gefühle handelt es sich? Um Dankbarkeit, Freude, Wehmut und Ansporn.
Dankbar bin ich zutiefst, diese Auszeichnung tragen zu dürfen, die den Namen eines bedeutenden Kaisers aus dem Hause Habsburg trägt, der in der 2. Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts europäische Politik maßgeblich mitgestaltet hat und in dessen Leben auch die belgischen Städte Gent und Brügge eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Dankbar bin ich auch, einen Preis tragen zu dürfen, der einem großen Tiroler, Dr. Dr. Alois Lugger, gewidmet ist, der in seiner Lebensgeschichte die Beziehung zwischen Südtirol, wo er geboren wurde, und Nordtirol, wo er gewirkt hat, auf sehr persönliche Weise versinnbildlicht.
Natürlich bin ich sehr dankbar, mich in die sehr illustre Reihe jener Persönlichkeiten einreihen zu dürfen, denen in der Vergangenheit dieser Preis verliehen wurde und von denen ich eine Reihe in meinem Leben persönlich kennengelernt habe. Mehr als dankbar bin ich dafür, in einer fast weltrekordreifen Kadenz, in einem halben Jahr, zum zweiten Mal hier in Innsbruck geehrt zu werden. Im Oktober vergangenen Jahres wurde mir der große Tiroler Adlerorden verliehen. An diese große Ehre und an diesen schönen Tag erinnere ich mich noch sehr gerne, auch wenn ich wegen eines Besuches in Südtirol den beeindruckenden Zapfenstreich nicht habe miterleben können.
Heute werde ich für effektive oder vermeintliche „außerordentliche Leistungen“ geehrt. Das macht mich etwas beschämt. Es macht mich aber vor allem froh. Mit dem Begriff „außerordentliche Leistungen“ verbindet sich in meinem Leben etwas, was ich Ihnen, mit einem kleinen Augenzwinkern, nicht vorenthalten möchte. Ich habe 22 Jahre lang nebenberuflich an der Katholischen Universität Löwen in Louvain-La-Neuve eine Lehrtätigkeit ausgeübt. Da ich über keinen Doktortitel verfüge, konnte ich nur für jeweils zwei Jahre in dieses Amt berufen werden, nachdem das zuständige Universitätsgremium einstimmig meine „außergewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen“ bestätigt hatte. Das war in Wirklichkeit nur eine Formalität. Heute erlebe ich eine Ehrung aufgrund von Leistungen, die vielleicht nicht nur rein formeller Natur sind. Ich freue mich, dass diese langjährige Arbeit, über die hier gesprochen wurde, nicht ganz unbeachtet geblieben ist. Wenn Sie in einer Region mit 77.000 Einwohnern und einer Fläche von nur 854 Quadratkilometern Verantwortung tragen, die sehr stark von der Geschichte und insbesondere vom Versailler Vertrag geprägt wurde, ist es keineswegs selbstverständlich, auch außerhalb dieser Region wirken zu können und eine gewisse Anerkennung zu finden. Ganz besonders freut es mich, heute so viele bisherige Freundinnen und Freunde im Saal zu sehen, und ich hoffe, dass die anderen mir noch unbekannten Gäste alle heute Abend zu Freundinnen und Freunde werden.
Ich empfinde aber auch eine gewisse Wehmut. Wer mit einem Preis dieser Art ausgezeichnet wird, kann sich einer Tatsache unumstößlich sicher sein: Seine politische Lebenserfahrung ist definitiv größer als seine politische Lebenserwartung. Wenn ich an das Morgengrauen meiner politischen Tätigkeit zurückdenke, das vor über 32 Jahren im damaligen Rat der deutschen Kulturgemeinschaft Belgiens begann, und langsam deren Abenddämmerung, die das Ausscheiden aus der aktiven Politik bedeutet, hin und wieder am Horizont aufflackern sehe, geht mir so Einiges durch den Kopf. Mein gesamtes politisches Wirken hat immer einen sehr engen Bezug zu Europa gehabt. Europa war, ist und bleibt eine meiner großen Leidenschaften. Ich hatte 1970 im Alter von 18 Jahren das Glück, bei einem europäischen Aufsatzwettbewerb den ersten Preis zu erhalten und dann, zum ersten Mal in meinem Leben, in das Schloss von Versailles eingeladen zu werden. Das Thema hieß damals: „Wie nehmen Sie das Unbehagen unter den Jugendlichen wahr? Welches Europa würde teilweise Ihren Wünschen und Bedürfnissen von heute und morgen entsprechen?“ Zur Einstimmung auf die heutige Veranstaltung habe ich diesen inzwischen 43 Jahre alten Text vor einigen Tagen noch einmal nachgelesen. Ohne mich jetzt selbst zitieren zu wollen, habe ich dabei festgestellt, dass vieles von dem, was ich damals geschrieben habe, vielleicht etwas naiv war, aber auch heute noch überraschend aktuell geblieben ist. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber wirklich freuen soll. Dennoch steht fest: Die europäische Integration ist und bleibt die Zukunft unseres Kontinentes. Deshalb möchte ich den Geldbetrag, der mit dem heute verliehenen Preis verbunden ist, einer Initiative zur Verfügung stellen, die jungen Menschen Europabegeisterung vermittelt.
Selbst in meinem Alter ist ein solcher Preis natürlich auch Ansporn, das begonnene Engagement konsequent fortzusetzen. Es bleibt noch unendlich viel zu tun. Überall da, wo ich bisher tätig war, warten noch große Herausforderungen darauf, angepackt und bewältigt zu werden: In der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens bei der staatsrechtlichen Vollendung und inhaltlichen Gestaltung ihrer innerstaatlichen Autonomie; in Belgien bei der Fortführung des Föderalisierungsprozesses mit seinen zahlreichen Konfliktpotentialen; in der Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen (AGEG), in der Großregion Saar-Lor-Lux oder in der Euregio Maas-Rhein beim Vertiefen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit; in Europa beim Ausbau der Integration und der Stärkung seiner vielfältigen Gebietskörperschaften.
Wir dürfen nie vergessen, dass Europa nur erfolgreich sein wird, wenn es die Rolle und Bedeutung der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften anerkennt, diese zu einem wichtigen Instrument europäischer Integration heranwachsen lässt und dafür sorgt, dass da, wo die Menschen Politik erleben, auch die Europapolitik mitgestaltet wird.
Am 27. Oktober 2012 hat Präsident DDr. Herwig van Staa auf der Jahrestagung der Europäischen Stiftung des Aachener Doms eine bedeutende Rede gehalten und Folgendes gesagt: „Europa ist ohne seine Regionen nicht denkbar. Innovation und Kreativität entstehen in den Regionen, Städten und Gemeinden. Arbeitsplätze und Wachstum werden in den Regionen und somit auch in den Städten und Gemeinden geschaffen, Solidarität und sozialer Zusammenhalt entwickeln sich ebendort.“ Genau darum geht es!
Das gilt übrigens für beide europäische Integrationsprozesse, für den im Rahmen des Europarates ebenso wie für den im Rahmen der Europäischen Union. Ein Europarat, der den Kommunen und Regionen nicht die ihnen zustehende Bedeutung beimisst, würde ebenso scheitern, wie eine EU, die ohne die Gebietskörperschaften ihr Handwerk erledigen zu können glaubt. Und Europa hat Einiges zu erledigen! Die großen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts können nur durch eine europäische Zusammenarbeit gemeistert werden. Das gilt für den demographischen Wandel ebenso wie für die Ressourcenknappheit, den Klimawandel, die Globalisierung, die weltweite Friedenssicherung oder die Schaffung einer gerechteren Wirtschaftsordnung in Zeiten, wo immer mehr Menschen in Europa der Altersarmut zum Opfer fallen und wo Tag für Tag tausende Menschen auf der Welt an Hunger sterben. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen können wir nur vorankommen, wenn wir ihre kontinentale Dimension begreifen. Diese kann bei den Menschen vor Ort aber nur ankommen, wenn sie über die Gebietskörperschaften vermittelt und in enger Zusammenarbeit mit diesen in Handlungsstrategien umgesetzt wird. Dabei spielt natürlich die Subsidarität eine große Rolle und dabei erweist sich die grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit zwischen Regionen von entscheidender Bedeutung.
Europa hat eine große Zukunft, wenn es ihm gelingt, aus der jetzigen Krise herauszukommen. Der Europaparlamentspräsident Martin Schulz hat am 17. Januar 2011 bei seiner Antrittsrede in Straßburg zu Recht auf einen drohenden Paradigmenwechsel hingewiesen. Der europäische Integrationsprozess, mit dem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Menschen die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen verbanden, droht zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr und mehr als eine Bedrohung, als eine Gefahr empfunden zu werden. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung.
Dabei kann Europa auf beachtliche, geradezu epochale Erfolge zurückblicken. Friede: Ein Zustand von unschätzbarem Wert. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, aber ich kenne das Geschehen des Krieges aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. Das hat mich tief geprägt. Freiheit: Eine keineswegs selbstverständliche Errungenschaft. Wir alle können uns noch an Todesstreifen und Grenzsoldaten mitten in Europa erinnern. Der Binnenmarkt: Dieser hat Hervorragendes für das wirtschaftliche Wachstum geleistet. Der Euro: Die gemeinsame Währung ist ein bedeutungsvoller Fortschritt. In meiner Jugend mussten die Menschen in meiner Heimatregion mit drei verschiedenen Brieftaschen für Gulden, Mark und Franken durch die Gegend laufen. Das europäische Sozialstaatsmodell: Als Bauernsohn, der als einziger von acht Volksschülern in seinem Heimatdorf die Universität besuchen durfte, konnte ich eine sehr persönliche Erfahrung mit diesem Modell machen, das nach meiner tiefen Überzeugung, trotz vieler Anpassungsprobleme, mit zu dem Besten gehört, was Europa im weltweitem Vergleich zu bieten hat.
Europa hat hervorragende Leistungen vollbracht, so wie es in der Einleitung des vor einigen Jahren veröffentlichen Expertenberichtes des Europarates zum Zusammenleben im Europa des 21. Jahrhunderts nachzulesen ist: „Im immer noch jungen 21. Jahrhundert gibt es vieles, wofür Europäer dankbar sein müssen. Generell ist ihr Leben freier, gesünder, sicherer, reicher, friedlicher und sehr wahrscheinlich länger als das ihrer Vorfahren in vergangenen Jahrhunderten – und ganz sicher als das Leben ihrer Zeitgenossen in vielen anderen Regionen der Welt.“ Das stimmt, aber die Erfolge der Vergangenheit genügen nicht.
Wir müssen Europa aus den Schieflagen herausbringen, in denen es sich befindet. Europa ist ein Riese beim Regeln überflüssiger Details und ein Zwerg bei der Bewältigung der wirklich großen Herausforderungen unserer Zeit. Als in Kopenhagen die Nachfolgekonferenz von Rio stattfand, wurde die abschließende Einigung zwischen dem chinesischen und dem amerikanischen Präsidenten in einem Vieraugengespräch ausgehandelt. Das geschah zwar auf europäischem Boden, aber die Europäer saßen nicht einmal am Tisch. Das kann nicht die Zukunft Europas sein.
Eine zweite Schieflage bildet das Demokratiedefizit, auch wenn jeder, der im Parlament, im Ministerrat oder in der Kommission Verantwortung trägt, über eine gewisse Form von demokratischer Legitimation verfügt. Nichtsdestotrotz müssen wir das Funktionieren Europas noch demokratischer und mit noch mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung gestalten.
Dann gibt es eine Schieflage, die wir gerade als Verfechter der Interessen unserer Gebietskörperschaften immer wieder konkret erleben. Die Subsidiarität wird nicht ernst genug genommen. Die Multi-Level-Governance, die Mehrebenenregierung, funktioniert manchmal nur auf dem Papier und viel zu wenig in der Wirklichkeit. Da geht es nicht um den vermeintlichen Gegensatz zwischen dem Europa der Regionen und dem Europa der Staaten. Da geht es vielmehr darum, dass die Aufgaben so adäquat unter der europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Ebene verteilt werden, dass am Ende für die Bürgerinnen und Bürger etwas Vernünftiges dabei herauskommt. Diese Bürgerinnen und Bürger richten sich nicht in erster Linie an den Präsidenten des Europäischen Rates, sondern an ihre Bürgermeisterin, ihren Landtagsabgeordneten oder ihren Landeshauptmann, da, wo sie konkret leben und diese Politiker konkret fassbar vor ihren Augen stehen haben.
Von Anfang an befindet sich auch die Währungsunion in einer Schieflage. Es war eine riskante Hoffnung, eine Währungsunion zu schaffen und darauf zu warten, dass sich die wirtschaftliche und politische Integration von alleine entwickelt. Das hat so nicht geklappt. Da müssen wir schleunigst nachbessern. Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik kann auf Dauer nicht funktionieren. Auf diesem Gebiet bleibt noch gewaltig viel zu tun.
Auch beim Verhältnis zwischen Austerität und Wachstum gibt es eine Schieflage und müssen neue Gleichgewichte gefunden werden. Das gilt sicherlich auch bei der Frage, ob es letztlich in Europa auf die nationalen Egoismen oder auf die europäische Solidarität ankommt.
Und noch etwas ist von großer Bedeutung. Wettbewerb spielt eine große und wichtige Rolle in Europa. Es darf allerdings nicht so sein, dass die Daseinsvorsorge und die Dienstleistungen öffentlichen Interesses sich immer jeden Millimeter Handlungsfreiheit gegen irgendeine europäische Wettbewerbsbestimmung erkämpfen müssen. Das sind Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten.
Wenn wir all diese und noch eine ganze Reihe anderer Schieflagen in den Griff bekommen wollen, müssen wir ebenfalls gründlich und ergebnisorientiert über die Frage nachdenken, wie wir die Zusammenarbeit und die Aufgabenteilung zwischen Europarat einerseits und Europäischer Union andererseits noch verfeinern, verbessern und effizienter gestalten können, so wie es etwa im diesbezüglichen Bericht des luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker vorgeschlagen wird.
Wichtiger als alles bisher Erwähnte ist und bleibt jedoch etwas anderes. Wir müssen es schaffen, die zunehmende Europaverdrossenheit wieder in echte Europabegeisterung umzuwandeln. Das können wir nur, wenn wir Europa für die Menschen nachvollziehbar mit größerer Schlagkraft und mit größerer Wirkung tätig werden lassen, wenn wir neue Gleichgewichtige hinbekommen und wenn Europa mit seinem tagtäglichen Tun ebenso im Europarat wie in der Europäischen Union für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare Mehrwerte produziert, bei der Lebensqualität, bei der sozialen Gerechtigkeit, bei der Nachhaltigkeit, und bei der kulturellen Vielfalt, die ein besonders wertvolles Gut des Europäischen Erbes ausmacht.
Diese Europabegeisterung setzt das Zusammenwirken vieler voraus. Die Politik hat eine große Verantwortung, aber sie ist nicht alleine verantwortlich. Die Medien, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Kirchen und die Religionsgemeinschaften, alle sind gefordert. Wenn wir unser europäisches Gesellschaftsmodell wirklich zukunftstüchtig machen wollen, müssen wir gehörig die Arme hochkrempeln und die Dinge in Bewegung bringen. Dazu brauchen wir ein besonderes Verhältnis zur Geschichte und zwar im doppelten Sinne von History und Story. Wir müssen uns der europäischen Geschichte wieder viel mehr bewusst werden und die Leistungen der Vergangenheit jungen Generationen vermitteln. Europa braucht aber auch eine Erzählung, eine Erfolgsgeschichte, für die sich Menschen, vor allem junge Menschen, begeistern können. Das Projekt Europa darf nicht an der Europaskepsis scheitern. Das wäre der schlimmste Schaden, den wir unserem Kontinent zufügen könnten. Wenn wir verhindern wollen, dass die europäische Integration scheitert, müssen wir resolut handeln und mutig zupacken. Das hat der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Joachim Gauck, in seiner Europarede vom 23. Februar 2013 hervorragend so formuliert: „… mehr Europa fordert mehr Mut bei allen; Europa braucht jetzt keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger; keine Zauderer, sondern Zupacker; keine Getriebenen, sondern Gestalter.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!