Parlament

Europadebatte im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft


Bereinigter Auszug aus dem ausführlichen Bericht Nr.35 (Sitzung vom 24. April 2017) Seiten 53 – 57

Intervention von Herrn Karl-Heinz Lambertz während der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union während der Plenarsitzung des Parlamentes der Deutschsprachigen Gemeinschaft vom 24. April 2017.

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Mitglieder von Regierung und Parlament!

„Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“ Das war die Frage, mit der Papst Franziskus im vergangenen Jahr auf die Verleihung des Karlspreises in Rom antwortete. Es lohnt sich, diese Rede eines Südamerikaners zu Europa und zur Europäischen Union etwas genauer zu lesen, denn darin wird zweierlei deutlich: einerseits die Bewunderung für das, was diese Union zustande gebracht hat, und andererseits die Enttäuschung über das, was derzeit nicht funktioniert.

Ja, die Europäische Union hat 2012 zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten. Und es stimmt auch, was Barack Obama auf einer seiner letzten Reisen nach Europa sagte: Die Europäische Union, der europäische Einigungsprozess ist neben dem Wegfall des Eisernen Vorhangs zweifellos die größte politische Leistung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent.

Es war ein beeindruckender Schritt, als sich die Väter der Europäischen Union im Jahr 1950, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auf dessen Scherben einigen konnten, die beiden kriegsnotwendigen Industriezweige Kohle und Stahl gemeinsam europäisch zu gestalten, um somit jedem einzelnen Staat die Möglichkeit einer kriegstreibenden Tätigkeit zu verwehren. Fast wäre einige Jahre später sogar die Europäische Verteidigungsunion gelungen, die heute zu Recht von sehr vielen gefordert wird und die wir in der Tat brauchen, wenn wir uns in der Welt richtig positionieren wollen.

Ja, Europa hat uns allen sehr viel gebracht. Das wurde schon von einigen meiner Vorredner erwähnt. Ich werde diese Aussagen nicht wiederholen. Auf dem europäischen Kontinent hat es nie so lange ununterbrochen Frieden gegeben wie in den letzten Jahrzehnten, nie so viel Wohlstand ‒ trotz aller bestehenden Unzulänglichkeiten ‒ und vor allem nie so viel Bewegungsfreiheit. Wer mein Alter erreicht hat – und das ist in diesem Hause nur eine einzige Person –, der kann sich noch sehr gut daran erinnern, was es hieß, bei jedem Grenzübertritt eine Kontrolle über sich ergehen lassen zu müssen. Stellen wir uns nur einmal vor, was eine Neueinführung dieser Grenzkontrollen für Tausende von Grenzgängern bedeuten würde, die jeden Tag nach Deutschland oder nach Luxemburg zur Arbeit fahren.

Zu meiner Studentenzeit war es etwas Außergewöhnliches, wenn jemand im Ausland studieren konnte. Heute gehört das Erasmus-Projekt für Zigtausende junge Menschen, die während ihres Studiums eine ausländische Universität besuchen, zum europäischen Alltag.

Alle diese Beispiele sind Errungenschaften, auf die wir stolz sein können. Dennoch stimmt das, was Martin Schulz im Jahr 2012 bei seiner Antrittsrede als Präsident des Europäischen Parlaments in Straßburg sagte: „Es besteht die Gefahr eines Paradigmenwechsels.“ Martin Schulz meinte damit, dass dieses Europa, das jahrzehntelang die Hoffnung der Menschen auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bedeutete, nun zunehmend von immer mehr Menschen als eine Bedrohung ihrer Situation empfunden wird. Das ist schon eine sehr bedenkliche Entwicklung, die uns aufrütteln und die geändert werden muss.

Bei der Finanz- und Staatsschuldenkrise, bei der Eurokrise und vor allem bei der Flüchtlingskrise haben wir erlebt, was in der EU alles nicht funktioniert. Gerade bei der Flüchtlingskrise haben wir in eindrucksvoller Weise erlebt, wie zerbrechlich die vermeintlich gemeinsamen europäischen Werte sind, die unser Zusammenleben ordnen und ihm eine Orientierung geben sollen. In der Tat droht Europa infolge der vielen institutionellen Unzulänglichkeiten, die die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ganz massiv bedrohen, krank zu werden. Es besteht die Gefahr einer zunehmenden Desintegration, weil im Norden, im Osten, im Süden und im Westen Europas jeder eine andere Vorstellung davon hat, wohin der gemeinsame Weg führen soll. Dabei ist es noch nicht einmal so wichtig, ob alle diesen Weg in derselben Geschwindigkeit gehen oder ob wir mit einer géométrie variable – wie es auf Französisch so schön heißt – arbeiten. Viel wichtiger ist, dass dieser Weg in dieselbe Richtung führt, denn sonst werden wir mit dem europäischen Integrationsprozess nicht vorankommen. Wichtig ist auch, dass Europa einen spürbaren Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zum Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten leistet. Das scheint mir und übrigens nicht nur mir von fundamentaler Bedeutung.

Im Jahr 2006 erhielt der damalige luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker in Aachen den Karlspreis. Juncker hat damals, noch vor der Finanzkrise, eine sehr beeindruckende Rede gehalten. Darin sagte er u. a.: „Wenn wir es nicht schaffen, in den nächsten zehn Jahren aus dieser höchst erfolgreichen wirtschaftspolitischen Konstruktion Europa auch eine sozialpolitisch erfolgreiche Union zu machen, dann wird Europa scheitern.“ Diese zehn Jahre sind im Mai 2016 um und wir müssen zumindest festhalten, dass die von Juncker propagierte sozialpolitisch erfolgreiche Europäische Union noch lange nicht erreicht ist.

Was hat das alles mit der Deutschsprachigen Gemeinschaft zu tun? Meiner Meinung nach eine ganze Menge. Es wurde bereits gesagt, dass ein Großteil der europäischen Gesetzgebungen auch auf das legislative Handeln in der Deutschsprachigen Gemeinschaft einen konkreten Einfluss hat. Gerade wir als Minderheit, als Kleingliedstaat und als Grenzregion sind ganz besonders von der konstruktiven und positiven Einbindung in eine gut funktionierende Europäische Union als Rahmen für unsere eigenen autonomen Gestaltungsmöglichkeiten abhängig. Dazu gehören die offenen Grenzen, die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kooperation und sicherlich auch die Mittel aus den europäischen Strukturfonds.

In welche Richtung soll es nun gehen? Noch mehr Europa? Oder weniger Europa? Verabschiedung von der europäischen Integration und Rückkehr zu einer rein nationalstaatlichen Politikgestaltung? All das steht zur Diskussion. Wenn man sich die politischen Debatten anhört, die im Vorfeld der niederländischen Wahlen, der französischen, und der österreichischen Präsidentschaftswahlen sowie anlässlich des Parteitags der AfD in Deutschland stattgefunden haben, wird einem bewusst, wie umstritten das europäische Projekt mittlerweile geworden ist.

Das Weißbuch der EU-Kommission zeigt Lösungen auf und fordert zu einer breiten Diskussion auf. Genau diese Diskussion führen wir heute hier. Es ist natürlich richtig – manchmal kann man sogar Herrn Balter recht geben –, dass die Problematik rund um die Europäische Union sich nicht mit einer Diskussion regeln lässt. Wichtig ist jedoch, dass wir uns detailliert mit diesen Fragen auseinandersetzen und uns nicht nur die im Weißbuch aufgeführten Alternativen anschauen, sondern auch die fünf thematischen Dokumente, die in den nächsten Wochen und Monaten zur sozialen Dimension, zur Globalisierung, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur europäischen Verteidigung und zur Sicherheitspolitik herausgegeben werden. Die Diskussion darüber ist nötig und wir müssen sie ebenfalls führen.

Aus der Sicht der SP-Fraktion sind drei Dinge zu erwähnen. Das mache ich stichwortartig und eher im Hinblick auf zukünftige Diskussionen als mit der Absicht, sie heute abschließend zu erörtern. Erstens, wir müssen uns erneut die Frage stellen, warum wir überhaupt eine Europäische Union brauchen. Mit dieser Grundsatzfrage sollten wir uns sehr ausführlich auseinandersetzen. Dabei wird man meiner Auffassung nach sehr schnell zu dem Ergebnis gelangen, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine einzige große gesellschaftliche Herausforderung gibt, die ein einzelner Staat, so groß er auch sein mag, alleine meistern kann: weder den Klimaschutz, die Friedenssicherung, die Sicherheit, den demografischen Wandel oder die Folgen der Digitalisierung noch die zunehmende Verbreitung der sogenannten künstlichen Intelligenz. Dies sind nur einige Themen, die uns bei der Beantwortung der Frage helfen, weshalb wir Europa wirklich brauchen.

Zweitens, wir müssen uns klar werden, welche gewaltigen Schieflagen derzeit in Europa bestehen. Europa ist ein Riese, wenn es um das Regeln von überflüssigen Details geht, und ein Zwerg, wenn es um die großen politischen Herausforderungen in der Außenpolitik geht. Zwar wirft auch ein Zwerg einen langen Schatten, wenn die Sonne tief genug steht, aber das kann nicht die Lösung für Europa sein. Es fehlt an demokratischer Legitimation. Es hat eine Wirtschafts- und Währungsunion gegeben, der keine echte Wirtschafts- und Haushaltsunion gefolgt ist. Der Wettbewerb dominiert einseitig, auch gegenüber den Dienstleistungen öffentlichen Interesses. Zudem droht die Austeritätspolitik die Handlungs- und Investitionsfähigkeit vieler Gebietskörperschaften zu zerstören. All das sind Schieflagen, die beseitigt werden müssen. Dazu können die Gebietskörperschaften, die Regionen und insbesondere die Regionen mit Gesetzgebungshoheit eine ganze Menge beitragen.

Im Grunde sind die regionale und die lokale Ebene die Politikebenen, die den Bürgern am Nächsten stehen und wo die Bürger die Politiker direkt erreichen können. Wenn es nicht gelingt, auf diesen Ebenen den Mehrwert der europäischen Initiativen zu vermitteln und den dortigen Problemen in Europa Gehör zu verschaffen, können die europäischen Institution nicht erfolgreich arbeiten.

Drittens, die Regionen sind auch der lebendige Ausdruck der europäischen Vielfalt, die eine große Trumpfkarte darstellt. Die Regionen sind zudem die Ebene, auf der das europäische Sozialstaatsmodell konkret gelebt wird, das sich sehr positiv von allem anderen abhebt, was wir auf der Welt in diesem Bereich kennen. Die Regionen sind übrigens auch die Ebene, wo letztlich die eigentliche Debatte über die Werte stattfindet, die uns in Europa vereinen sollen. Wenn wir eine offene Gesellschaft sein wollen, wenn wir mehr Einwanderung zulassen möchten, müssen wir uns ebenfalls darüber im Klaren sein, welche Werte alle zu vertreten haben, wie diese zustande kommen und welcher Dialog dafür notwendig ist. Das kann man mit Sicherheit nirgends besser diskutieren als auf der lokalen und regionalen Ebene.

Abschließend möchte ich eines ganz deutlich sagen: Die Zukunft der Europäischen Union findet nicht in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, sondern hier und überall dort statt, wo die Menschen leben. Dort muss dieser Mehrwert deutlich werden. Dort muss angepackt werden und dort muss geklärt werden, was wir von Europa erwarten und was wir besser selbst in die Hand nehmen. Aber in die Hand nehmen müssen wir es schon. Das hat der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 23. Februar 2013 im Rahmen seiner großen europapolitischen Rede sehr deutlich und hervorragend zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: „Mehr Europa ist nötig und mehr Europa fordert mehr Mut bei allen. Europa braucht jetzt keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger, keine Zauderer, sondern Zupacker, keine Getriebenen, sondern Gestalter.“ Ich glaube, das ist genau das, worauf es jetzt ankommt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Nachfolgend seine zweite Wortmeldung zum Thema:

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen aus Regierung und Parlament!

Erlauben Sie mir zuallererst, allen dafür zu danken, dass sie auf den Vorschlag, diese Themendebatte zur Zukunft der Europäischen Union heute Abend im Parlament zu führen, positiv reagiert haben. Ich glaube auch, dass sich diese Debatte durchaus sehen oder besser noch lesen lassen kann. Solche Debatten finden zurzeit in vielen Regionalparlamenten in Europa statt. Ich selbst habe an einem halben Dutzend solcher Debatten teilgenommen und finde, dass wir mit den Aussagen, die wir heute ausgetauscht haben, durchaus in guter Gesellschaft sind. Für das, was wir zu Europa heute gesagt haben, brauchen wir uns auch keineswegs zu schämen, und das ganz unabhängig davon, dass wir wohl eine der kleinsten Regionen mit Gesetzgebungshoheit in Europa sind, die solche Debatten führen.

Natürlich stellt die Debatte noch keine Lösung dar. Sie soll sensibilisieren, sie soll vor allem Aufmerksamkeit für dieses Thema wecken und Betroffenheit erzeugen. Diese Betroffenheit spielt sich nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen der Menschen ab. Europa ist etwas, das man mit Verstand und Gefühl anpacken muss, denn es ist die gemeinsame Zukunft unseres Kontinents. Diesen können wir als Individuen natürlich nicht bewegen, denn es dauert zig Millionen Jahre, ehe sich die Kontinentalplatten verschieben.

Wenn man von Europa spricht, spricht man entweder von der Europäischen Union oder vom Europarat. Beide Institutionen sind prägend und schicksalhaft für die Zukunft dieses Kontinents. Alles andere ist Gerede. Die Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union muss fortgesetzt werden. Sie muss sich vor allem in unserem alltäglichen Handeln widerspiegeln und immer wieder thematisiert werden, denn was wir machen, ist Europa, und das, was Europa macht, ist auch für uns von Bedeutung.

Als Parlament haben wir da eine große Verantwortung, u. a. bei der Subsidiaritätskontrolle. Sie ist eines der Instrumente, die dazu beitragen können, dass es zu einer richtigen Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der europäischen, der nationalen und der gliedstaatlichen Ebene kommt. Ich hatte noch heute Morgen die Gelegenheit, mit dem derzeit in Brüssel weilenden Europaausschuss des Landtags aus Oberösterreich über diese Subsidiaritätskontrolle zu diskutieren. Neben dem bayerischen Landtag ist auch der oberösterreichische Landtag ein gutes Beispiel für wertvolle Arbeit in diesem Bereich. Meiner Meinung nach könnten wir davon künftig noch mehr profitieren als bisher. Auch dabei kommt es, wie bei vielen anderen Dingen, auf die Zusammenarbeit an. In den kommenden Monaten bis zu den nächsten Europawahlen werden wir sicherlich noch erleben, wie sich in Europa die Positionen, Vorstellungen, Konzepte und Projekte darstellen, konkretisieren und dann um Zustimmung werben werden.

Wichtig ist, dass die gesamte Bevölkerung, dass die Zivilgesellschaft in diesen Prozess einbezogen wird. Insofern ist es sehr ermutigend, dass wir neben den hässlichen antieuropäischen Parolen, die wir in den letzten Jahren gehört haben, zunehmend auch Menschen treffen, die regelmäßig für Europa auf die Straße gehen, wie etwa die Mitglieder der Bewegung Pulse of Europe. Deshalb freut es mich, dass es eine solche Initiative demnächst wahrscheinlich auch in Eupen, der Hauptstadt Ostbelgiens, geben wird. Das ist ermutigend und das sollten wir unterstützen, indem wir uns daran beteiligen.

Darüber hinaus sollten wir uns auch im Parlament in vielfältiger Weise weiterhin mit dem Thema beschäftigen. Dazu werden wir u. a. im Rahmen einer Matineeveranstaltung noch vor Ende der Sitzungsperiode die Gelegenheit haben. Ich persönlich freue mich, dass der Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen, Markku Markkula aus Finnland, am 26. Juni in unserem Parlament zu Gast sein wird und wir mit ihm diskutieren können. All das sind Möglichkeiten, das Thema aus vielfältiger Sicht zu behandeln.

Ich glaube, dass wir mit der Europäischen Union das richtige Instrument in Händen halten, aber wir müssen etwas Vernünftiges damit anfangen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Einen Auszug aus dem ausführlichen Bericht mit allen Reaktionen und Zwischenrufen finden Sie hier