Reden

Neujahrsansprache des Ministerpräsidenten


Neujahrsansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens

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01/01/2014

Liebe Bürgerinnen und Bürger der Deutschsprachigen Gemeinschaft,

vielen unter uns wird 2013 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem König Albert II. den belgischen Königsthron verlassen und S.M. König Philippe ihn bestiegen hat.

Beide haben uns im vergangenen Jahr gemeinsam mit Königin Paola und Königin Mathilde die Ehre ihres Besuches erwiesen.

Dies erfüllt die Menschen in Ostbelgien mit Freude und Dankbarkeit.

In den beiden Jahrzehnten seiner Herrschaft hat König Albert Außerordentliches geleistet und der Funktion an der Spitze des belgischen Staates einen unverkennbaren persönlichen Stempel aufgedrückt.

Dabei hat er nie die besonderen Anliegen, die Wünsche und das Schicksal der deutschsprachigen Belgierinnen und Belgier aus den Augen verloren.

Die Erinnerung daran wird noch lange in unserem Gedächtnis und in unseren Herzen weiterleben.

Auch König Philippe hat seit dem ersten Tag seiner Regentschaft deutlich gemacht, dass er die Menschen unserer Heimat in sein Herz geschlossen hat und dass er die Belange der Deutschsprachigen Gemeinschaft sehr ernst nimmt.

Dies hat er erneut vor wenigen Tagen eindrucksvoll unter Beweis gestellt, als er seine Weihnachtsansprache integral in deutscher Sprache gehalten hat und dabei auch auf einige Besonderheiten unserer Region eingegangen ist.

Das war eine Premiere und ein starkes Zeichen der Wertschätzung, für das wir ihm sehr dankbar sind.

2014 wird ein Gedenkjahr von außergewöhnlicher Bedeutung:

Vor 100 Jahren brach nach dem Attentat von Sarajevo der Erste Weltkrieg aus;

Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Angriff auf Polen;

Vor 10 Jahren fand im Osten Europas nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs die bisher größte Erweiterung der EU statt.

Diese Ereignisse von europäischer und zum Teil sogar weltpolitischer Bedeutung haben auch die Geschichte unserer ostbelgischen Heimat in erheblichem Maße beeinflusst und ebenfalls hierzulande ihre Spuren hinterlassen.

So wäre ohne den Versailler Vertrag mit der in ihm verankerten Angliederung der Ostkantone an Belgien das heutige Autonomiestatut der Deutschsprachigen Gemeinschaft nie zustande gekommen.

Ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es keine Ardennenoffensive mit ihren verheerenden Folgen gegeben, zu denen u.a. die Zerstörung der Stadt Sankt Vith gehört, die sich im Dezember diesen Jahres zum 70sten Mal jähren wird.

Nachdem 2013 das Parlament 40 Jahre und der eigene Gerichtsbezirk 25 Jahre alt geworden sind, steht Ende Januar 2014 der 30. Geburtstag der Regierung an.

Nachdem der damalige Rat der deutschen Kulturgemeinschaft 10 Jahre lang geradezu gebetsmühlenartig die Forderung nach einem mit der Dekretbefugnis ausgestatteten Rat und nach einer von diesem gewählten und vor ihm verantwortlichen Exekutive erhoben hatte, war es am 30. Januar 1984 endlich so weit.

Der seit wenigen Tagen mit der Dekretbefugnis ausgestattete Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft wählte seine erste Exekutive.

Die eigentliche Geburtsstunde der Deutschsprachigen Gemeinschaft mit ihren kulturellen und personenbezogenen Zuständigkeiten hatte geschlagen.

Seitdem hat sich die institutionelle Entwicklung der DG stromschnellenförmig beschleunigt.

Die effektive Übernahme der Zuständigkeiten für das Schul- und Behindertenwesen, den Sprachengebrauch im Unterricht, den Denkmalschutz, die Beschäftigung und die lokalen Behörden ging einher mit weiteren Anpassungen des Autonomiestatutes bei jeder der bisherigen Etappen der belgischen Staatsreform.

Dies gilt auch für die 6. Staatsreform, die kurz vor Weihnachten 2013 vom Föderalen Parlament verabschiedet wurde und die den Gemeinschaften und Regionen umfangreiche neue Zuständigkeiten überträgt.

Davon ist auch die DG in erheblichem Maße betroffen, da sie für die Kinderzulagen sowie für weitere Aspekte der Gesundheits-, Senioren-, Behinderten-, Sozial- und Beschäftigungspolitik verantwortlich wird.

Dies stellt Parlament und Regierung ebenso wie alle betroffenen Einrichtungen und Dienstleister vor große Herausforderungen.

Dies eröffnet jedoch vor allem hochinteressante Möglichkeiten zur maßgeschneiderten Gestaltung dieser neuen Handlungsfelder sowie zur Schaffung sinnvoller Synergien mit den bisherigen Zuständigkeitsbereichen.

Dabei taucht immer wieder die Frage auf:

Kann die DG diese neuen Aufgaben überhaupt bewältigen?

Ist sie dazu nicht zu klein?

Verfügt sie eigentlich über die notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen sowie über das erforderliche menschliche Potential?

Die Frage nach der Verkraftbarkeit ihrer Zuständigkeiten hat unsere Gemeinschaft seit ihren Anfängen ständig begleitet.

Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte im Umgang mit der stets wachsenden Autonomie hat gezeigt, dass bisher alle Zuständigkeiten mindestens genauso gut verwaltet wurden, wie das vorher unter der Verantwortung des belgischen Staates oder der Wallonischen Region der Fall war.

Das gilt für das Unterrichtswesen ebenso wie für die Zuständigkeit in den Bereichen Kultur, Beschäftigung und Sozialwesen.

Gäbe es hierzulande ohne die Autonomie noch zwei Krankenhäuser, die zahlreichen Sozialdienste, die flächendeckende moderne Schul-, Sport- und Kulturinfrastruktur?

Und kein Bürgermeister, Kommunalpolitiker oder Mitglied eines Kirchenfabrikrates zwischen Ouren und Neu-Moresnet wird ernsthaft die bedeutenden Verbesserungen in Frage stellen, die dank der Übernahme der Zuständigkeiten für die lokalen Angelegenheiten seit 2005 erreicht werden konnten.

Maßgeschneiderte Politikgestaltung gelingt umso besser je genauer wir wissen, wo wir hin wollen, in welche Richtung der Weg in die Zukunft führt und welche Etappenziele dabei zu erreichen sind.

Das REK, das Regionale Entwicklungskonzept, hat in den letzten Jahren die Richtung vorgegeben und bereits mit seinem ersten Umsetzungsprogramm beachtliche Ergebnisse hervorgebracht.

In den kommenden Monaten und Jahren gilt es, ein zweites Umsetzungsprogramm auszuarbeiten und die begonnene Arbeit zielstrebig fortzusetzen.

Dabei kann sich die Überschaubarkeit der DG durchaus auch als Stärke erweisen.

Wir brauchen die Dinge nicht aus der Ferne zu betrachten.

Wir können sie uns aus der Nähe anschauen.

Und wir können gebündelt vorgehen, Synergien schaffen, bürokratische Hindernisse erst gar nicht entstehen lassen und alle Vorteile der kurzen Wege nutzen.

In diesem Zusammenhang fällt der engen Zusammenarbeit zwischen der DG und den 9 Gemeinden des deutschen Sprachgebietes eine zentrale strategische Bedeutung zu.

Es gibt kaum einen Zuständigkeitsbereich unserer Gemeinschaft, wo diese Zusammenarbeit nicht sinnvoll im Interesse der Bürgerinnen und Bürger aufgebaut und gestaltet werden kann.

Dies gilt auch für die Funktionstüchtigkeit und Schlagkraft von Dienstleistungsträgern wie beispielsweise die Tourismusagentur Ostbelgien, das Sozial-Psychologische Zentrum, die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Ostbelgien oder die Verbraucherschutzzentrale Ostbelgien.

Und dies erweist sich insbesondere auf der Ebene der Infrastrukturpolitik als eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Politikgestaltung, sowohl bei dem weitgehend vollzogenen Abbau des Infrastrukturstaus als auch bei dem anstehenden Paradigmenwechsel hin zum nachhaltigen Bauen mit seiner Schwerpunktverlagerung auf den Lebenszyklus von Gebäuden.

Dieser Politikansatz lässt sich übrigens noch weiterentwickeln und verbessern, wenn wir nicht nur die Gemeinden, sondern jede einzelne der rund 140 Ortschaften unserer ostbelgischen Heimat in den Fokus unseres Interesses stellen.

In diesen Ortschaften steckt ein erhebliches Potential und ein großes Maß an Kreativität, die es zu entfalten gilt.

Davon konnte ich mich sowohl im vergangenen Sommer bei meinem Besuch der einzelnen Ortschaften als auch bei der vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Veranstaltungsreihe „Erzählte Heimat“ mit ihren 25 Etappen in den Altgemeinden unseres Sprachgebietes in zahlreichen Gesprächen persönlich überzeugen.

Die Übertragung der Zuständigkeit für das Gemeindegesetz, den Urbanismus und den Wohnungsbau würde diese Möglichkeiten noch um ein Vielfaches erweitern.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alles Interesse daran haben, den Ortschaften eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen und sie stärke als bisher an der Politikgestaltung zu beteiligen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

gerade in Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit eröffnet die Kleingliedstaatlichkeit der DG den Gemeinden, Sozialpartnern, Betrieben, Vereinen, Einrichtungen und insgesamt der Bevölkerung vielfältige Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung.

Anlässe mitzumachen, mitzugestalten und sich einzubringen warten an jeder Straßenecke.

Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist auch und nicht zuletzt eine Mitmachgemeinschaft.

Dazu bieten sich gleichermaßen viele berufliche wie zahllose ehrenamtliche Möglichkeiten zu den verschiedensten Anlässen an den unterschiedlichsten Stellen und Orten.

Die Dichte der Aufgabenfelder und Kontaktnetze sowie die Vielfalt der bestehenden Landschaft im Kultur-, Bildungs- und Sozialwesen können nur aufrecht erhalten und weiter ausgebaut werden, wenn neben beruflicher Fachkompetenz auch ein erhebliches Maß an ehrenamtlicher Tätigkeit zum Einsatz kommt.

In der Deutschsprachigen Gemeinschaft geschieht dies tagtäglich in vorbildhafter Weise und mit großem Erfolg.

Die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts hat die durch den Wiener Kongress entstandene und vom Versailler Vertag entscheidend beeinflusste Deutschsprachige Gemeinschaft zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt und in eine Richtung gelenkt, die sie als kleine Region mit Gesetzgebungshoheit an der Wasserscheide zwischen dem germanischen und romanischen Kulturraum in Europa mit zahlreichen Trümpfen und Chancen ausstattet.

Diese Trümpfe und Chancen sollten wir gemeinsam nutzen, um die Lebensbedingungen der Menschen unserer Heimat zu verbessern sowie den Standort Ostbelgien auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten weiter zu festigen und zum Erblühen zu bringen.

Die Zukunftstauglichkeit der DG wird letztlich davon abhängen, ob es uns allen gemeinsam gelingt, identitätsstiftende Verwurzelung mit weltoffener Vernetzung anzureichern, denn „erfolgreiche Regionen sind tief verwurzelt und breit vernetzt“.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien im Namen der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens ein erfolgreiches und glückliches Neues Jahr 2014!