Ansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, anlässlich des Festaktes “Zum 40. Jahrestag der Einsetzung des Rates der Deutschen Kulturgemeinschaft” in Anwesenheit Ihrer Majestäten König Philippe und Königin Mathilde
(D/FR/NL)
23/10/2013
Sire, Majestät,
Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident,
Exzellenzen,
Werte Festversammlung,
„Heute ist ein schöner und glücklicher Tag, der eine neue, vielversprechende Phase in der Geschichte unserer Gegend einleitet. Wir alle haben die Pflicht, diese Geschichte mitzugestalten. Es lebe Belgien! Es lebe der König!“
In Anwesenheit von Willy Schyns, der in der Regierung des damaligen Premierministers Leburton das Amt des Staatssekretärs für die Ostkantone und den Tourismus ausübte, beendete mit diesen Worten auf den Tag genau heute vor 40 Jahren, am 23. Oktober 1973, Johann Weynand seine Antrittsrede als frisch gewählter erster Präsident des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft.
Seitdem hat sich vieles geändert und weiterentwickelt. Eines ist jedoch für alle Mitglieder dieses Hauses unverändert geblieben: Die Pflicht, die Geschichte unserer Heimat nach bestem Wissen und Gewissen mitzugestalten.
Diese Geschichte ist keineswegs banal. Sie ist eng mit der europäischen und belgischen Geschichte des vorigen Jahrhunderts verwoben. Zwei historische Ereignisse spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Ohne den Versailler Vertrag mit der von ihm verordneten Angliederung der Ostkantone an Belgien in der ersten Hälfte und ohne die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre das heutige Autonomiestatut der Deutschsprachigen Gemeinschaft nie zustande gekommen.
Die in den kommenden Jahren anstehenden Gedenkfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg werden den passenden Anlass bieten, näher auf die Angliederung der Ostkantone an Belgien und den damit verbundenen Nationalitätenwechsel einzugehen, der uns Ostbelgier, chronologisch betrachtet, zu den letzten Belgiern gemacht hat. Im Jahre 2020 werden wir unsere hundertjährige Zugehörigkeit zum Königreich Belgien feiern können und es würde ohne jeden Zweifel allen Ostbelgierinnen und Ostbelgiern eine große Freude bereiten, wenn wir unser Königspaar dann erneut in unserer Mitte begrüßen dürften.
Genau wie beim Zustandekommen des Versailler Vertrages, haben die Deutschsprachigen auch bei den bisherigen Etappen der Staatsreform keine zentrale Rolle gespielt.
In dem 346 Seiten umfassenden und von vielen als eigentlicher Start der Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat angesehenen Bericht des Harmel-Zentrums aus dem Jahre 1958 war gerade einmal auf anderthalb Seiten die Rede von den Ostkantonen und der Notwendigkeit, diese unter Beibehaltung ihrer Kultur und ihres Brauchtums möglichst solide an die Provinz Lüttich anzubinden. Das Gesetz von 1973 über den RDK stattete die deutschsprachigen Belgier zwar als erste mit einem von der Bevölkerung direkt gewählten Gremium aus, verlieh diesem jedoch nur begrenzte Kompetenzen und Haushaltsmittel, deren Ausführung Mitgliedern der nationalen Regierung vorbehalten blieb. Dennoch war es ein wichtiger erster Schritt auf dem noch langen Weg zum heutigen Autonomiestatut. Dieses direkt gewählte und somit demokratisch legitimierte Gremium brachte die grundsätzliche Forderung schnell auf den Punkt: Ein mit der Dekretbefugnis ausgestatteter Rat und eine von diesem gewählte, vor ihm verantwortliche Exekutive. Nach einem Jahrzehnt dieser geradezu gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderung war es am 30. Januar 1984 dann endlich soweit. In Anwesenheit des vor wenigen Tagen verstorbenen damaligen Premierministers Wilfried Martens wählte der RDG seine erste Exekutive. Die eigentliche Geburtsstunde der Deutschsprachigen Gemeinschaft hatte geschlagen. Ab diesem Zeitpunkt hat sich die institutionelle Entwicklung ständig weiterentwickelt. Die effektive Übernahme der Zuständigkeiten für das Schul- und Behindertenwesen, den Sprachengebrauch im Unterricht, den Denkmalschutz, die Beschäftigung und die lokalen Behörden ging einher mit weiteren Anpassungen des Autonomiestatuts bei jeder der bisherigen Etappen der belgischen Staatsreform.
Die Koordinaten dieses Statuts werden grundlegend von der bisher noch gültigen asymmetrischen Zweigliedrigkeit der gliedstaatlichen Ebene mit ihren Regionen und Gemeinschaften geprägt. Deren zukünftiges Schicksal erweist sich für die Gesamtentwicklung des belgischen Föderalismusmodells von entscheidender und für den darin der Deutschsprachigen Gemeinschaft zugewiesenen Platz von fundamentaler Bedeutung. Dies in seiner vollen Tragweite rechtzeitig erkannt zu haben, ist das große Verdienst der Resolution des PDG vom 27. Juni 2011, in der dieses sich bereit, gewillt und in der Lage erklärt, mit angemessenen Finanzmitteln oder Finanzierungsmöglichkeiten alle Zuständigkeiten zu übernehmen, die den Gemeinschaften und Regionen bisher übertragen wurden oder in Zukunft übertragen werden.
Ohne Zweigliedrigkeit auf gliedstaatlicher Ebene wäre es wegen Unvereinbarkeit der flämischen und frankophonen Positionen zu Brüssel nicht zur Geburt des belgischen Bundesstaats gekommen. Ohne asymmetrische Ausgestaltung dieser Zweigliedrigkeit wäre die Funktionstüchtigkeit dieses Modells in arge Bedrängnis geraten, da sie kohärenter und effizienter Politikgestaltung auf vielfältige Weise im Wege steht. Ohne Überwindung dieser Zweigliedrigkeit und Hinwendung zu einem klassischeren Föderalismusmodell mit einer einzigen Art von Gliedstaaten kann dessen Zukunftstüchtigkeit nicht dauerhaft gewährleistet werden. Die sechste Staatsreform weist übrigens klar in diese Richtung.
Ein Bundesstaatmodell mit den vier Gliedstaaten Flandern, Wallonie, Brüssel und Deutschsprachige Gemeinschaft liegt in der logischen Kontinuität der bisherigen Entwicklung und entspricht ohne Zweifel den institutionellen Realitäten, die sich seit dem Ende des Einheitsstaates in Belgien gefestigt haben und mit denen sich eine sehr große Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung eng verbunden fühlt.
Auf keinen Fall bildet die unterschiedliche Größe der einzelnen Gliedstaaten ein wirkliches Hindernis für ein Belgien zu viert. Der internationale Vergleich lehrt auf anschauliche Weise, dass die relativen Größenunterschiede zwischen Gliedstaaten auch anderenorts mindestens so bedeutend sind wie in Belgien und dort keineswegs einer prinzipiellen Gleichberechtigung im Wege stehen. Aus der Erfahrung anderer Bundesstaaten mit großen und kleinen Gliedstaaten wie die kanadischen Provinzen oder die Schweizer Kantone lässt sich lernen, wie faktische Größenunterschiede im Interesse aller Beteiligten zu handhaben sind und wie sinnvoll Zusammenarbeit über innerstaatliche Sprach- und völkerrechtliche Staatsgrenzen hinaus bei der Ausübung autonomer Zuständigkeiten sein kann.
Die Frage nach der Verkraftbarkeit ihrer Zuständigkeiten hat unsere Gemeinschaft seit ihren Anfängen ständig begleitet. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte im Umgang mit der stets wachsenden Autonomie hat gezeigt, dass bisher alle Zuständigkeiten mindestens genauso gut verwaltet wurden, wie das vorher unter der Verantwortung des belgischen Staates oder der Wallonischen Region der Fall war. Insbesondere das Unterrichtswesen hielten viele vor rund 25 Jahren für nicht verkraftbar. Heute sind sich alle einig, dass die eigenständige Verwaltung dieser Zuständigkeit eine große Chance für die Deutschsprachige Gemeinschaft darstellt. Dasselbe gilt für die Zuständigkeit in den Bereichen Kultur, Beschäftigung und Sozialwesen. Kein Bürgermeister, Kommunalpolitiker oder Mitglied eines Kirchenfabrikrates zwischen Ouren und Neu-Moresnet wird ernsthaft die bedeutenden Verbesserungen in Frage stellen, die dank der Übernahme der Zuständigkeiten für die lokalen Angelegenheiten seit 2005 erreicht werden konnten.
Kleine Gemeinwesen können diese durchaus auch große Aufgaben erfolgreich meistern, wenn es gelingt, selbstbewusst die eigenen Stärken konsequent zu nutzen und zielstrebig maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln. Das klappt in der Regel übrigens umso besser, je genauer man weiß, wo man hin will und in welche Richtung der Weg in die Zukunft führt.
Sire, Majestät,
Werte Festversammlung,
Die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts hat die durch den Wiener Kongress entstandene und vom Versailler Vertrag entscheidend beeinflusste Deutschsprachige Gemeinschaft zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt und in eine Richtung gelenkt, die sie als kleine Region mit Gesetzgebungshoheit an der Wasserscheide zwischen dem germanischen und romanischen Kulturraum in Europa mit zahlreichen Trümpfen und Chancen ausstattet. Ihre Zukunftstüchtigkeit wird letztlich davon abhängen, ob es ihr bei der Politikgestaltung gelingt, ihre identitätsstiftende Verwurzelung mit einer weltoffenen Vernetzung anzureichern, denn erfolgreiche Regionen sind tief verwurzelt und breit vernetzt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.