Die Bedeutung der Deutschsprachigen Gemeinschaft im belgischen Bundesstaat
10/11/2009
PDF_20091110 (122.3 KiB)
Meine Herren Präsidenten,
beste Patrick, geachte Heer de Voorzitter van de Kamer van Volksvertegenwoordigers,
ich weiß nicht, ob Sie sich bewusst waren, was Sie sich angetan haben, indem Sie mich als Referenten zwischen Vorspeise und Hauptgericht organisiert haben. Wenn ich proportional zur Bevölkerung über die Bedeutung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien reden sollte, könnte ich eine sehr kurze Rede halten. Wenn man nämlich 0,7% der Bevölkerung eines ohnehin schon kleinen Landes, das ein bisschen mehr als die Hälfte von Nordrhein-Westfalen ausmacht, vertritt, dann darf man die Dinge nicht zu groß sehen.
Wie sagte mal jemand, der berühmt gewesen sein soll: „Niemand ist so klein, dass er nichts Großes leisten kann“. Das „Große“, das ich heute Abend hier leisten muss, ist dafür zu sorgen, dass Sie sich an diesen Abend in Tongeren, in diesem wunderbaren Gebäude, angenehm erinnern. Dass Sie nicht nach Hause gehen und über eine langweilige Rede – über die Ihr Hauptgericht kalt geworden ist – schimpfen müssen, und dass Sie vielleicht sogar im Großraum Düsseldorf sagen können, jetzt wissen wir ein bisschen mehr über Belgien.
Ich tue das sehr gerne in Deutsch, gerade hier in der weltoffenen Stadt Tongeren. So denke ich sehr gerne daran zurück, wie ich 1993 als noch ganz junger Minister vom damaligen Bürgermeister Patrick Dewael hier empfangen worden bin. Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag, denn ich hatte davor eine sehr lange Nacht verbracht. Es war auch sehr schwierig, zeitig aufzustehen, aber ich war trotzdem pünktlich da.
Wir sind hier in einer Region, die eine sehr bewegte Geschichte hinter sich hat und eine sehr kosmopolitische Vergangenheit aufweisen kann. Das kann man bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Karl der V. hat auch hier etwas zu sagen gehabt, auch wenn er in Gent gelebt hat und in Mecheln geboren wurde. Schon damals war es hier Gang und Gebe, viele Sprachen zu reden. So ist Karl der V. bekannt dafür, dass er einmal gesagt hatte: „Ich spreche Spanisch mit Gott, Französisch mit den Männern, Italienisch mit den Frauen und Deutsch mit meinem Pferd.“ Er hat im Jahre 1555 schließlich abgedankt.
Wie komme ich jetzt von Karl dem V. zur Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens? Das geht nur, indem man einige Jahrhunderte überspringt und indem man sich an dieses Thema etwas vorsichtig herantastet. Von der deutschsprachigen Minderheit in Belgien wird sehr oft gesagt, dass sie die „Letzten Belgier“ seien. Das stimmt übrigens! Das stimmt schon alleine deshalb, weil das heutige Gebiet deutscher Sprache in Belgien erst seit ziemlich genau 90 Jahren, seit 1920, zu Belgien gehört. Durch den Versailler Vertrag ist dieses Gebiet, das damals die Ostkantone Belgiens genannt wurde, unter sehr komplexen Umständen von Deutschland an Belgien abgetreten worden. Wir können also mit historischer Berechtigung von uns behaupten, dass wir die „Letzten Belgier“ sind. Zumindest die letzten, die Belgien beigetreten sind – ursprünglich übrigens nicht ganz freiwillig, sondern aufgrund einer fragwürdigen Volksbefragung bei der sich all jene, die gegen den Beitritt waren, in eine Liste eintragen mussten und dann unmittelbar zur deutschen Grenze abtransportiert wurden. 17 Menschen haben das damals gemacht. Also ohne diesen Versailler Vertrag gäbe es den heutigen Vortrag nicht.
Wenn man damals die ursprünglichen Absichten umgesetzt hätte – nämlich nicht nur dieses kleine Stück Deutschlands Belgien anzugliedern, sondern ein richtiges Stück bis zum Rhein herauszuschneiden, dann wäre ich heute vielleicht einer der mächtigsten Ministerpräsidenten in diesem Lande. Auch das hat man nicht gemacht. Es ist bei der kleinen Ecke geblieben. Die hat dann eine sehr bewegte Geschichte erlebt. Und ohne das Verständnis dieser Geschichte kann man gar nicht verstehen, warum es in Belgien überhaupt einen Landesteil gibt, den man die „Deutschsprachige Gemeinschaft“ nennt.
Nach der Angliederung an Belgien hat es sehr große Diskussionen darüber gegeben, wie man diese „Neubelgier“ in das damalige Belgien eingliedert. In diesem Kontext hat schon bald eine nationalsozialistische Mobilisierung stattgefunden. Hitler-Deutschland hat sich schließlich dieser Dinge angenommen und die deutschsprachigen Gebiete Belgiens annektiert. Somit wurden die 1920 abgetretenen Gebiete 1940 wieder dem Deutschen Reich einverleibt. Daraufhin sind praktisch alle Männer, die das entsprechende Alter hatten, als Zwangssoldaten an die Ostfront geschickt worden. Von ihnen ist nur ein Drittel zurückgekommen. Auch mein eigener Vater war einer der Wenigen, die noch aus dem Stalingrader Kessel herausgekommen sind. Und auch das nur, weil er verletzt war. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich heute Abend gar nicht hier, aber bestimmt jemand anders. Für so ein Amt als Ministerpräsident finden Sie immer noch den ein oder anderen Kandidaten oder die ein oder andere Kandidatin.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Annektion wieder annulliert. Die belgischen Behörden machten jedoch in den Nachkriegsjahren keinen Unterschied zwischen dem annektierten Gebiet und den restlichen besetzten belgischen Gebieten. Daraufhin wurde ein Großteil der Bevölkerung wegen Kollaboration inhaftiert. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war keineswegs evident, ob dieses Gebiet überhaupt noch weiter ein deutschsprachiges Gebiet bleiben würde. Das war eine sehr schwierige Zeit für unsere Gegend und allein dieser Teil der Geschichte wäre schon einen ganzen Vortrag wert. Aber da sollten Sie vielleicht mal einen Historiker einladen, der Ihnen das sehr viel fundierter darlegen kann. Für meinen heutigen Redebeitrag ging es mir bei dieser kurzen historischen Rückblende eigentlich nur darum, zu erklären, warum es überhaupt eine deutschsprachige Minderheit in Belgien gibt.
Das ist wie erwähnt sehr eng mit dem Versailler Vertrag verbunden. Es hat aber auch noch mit einem anderen geschichtlichen Ereignis zu tun. Belgien hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg, eigentlich ab 1958, wenn man die Hinterlegung eines gewissen Berichtes als Ausgangsposition nimmt, in einen Bundesstaat verwandelt. Belgien war seit seiner Gründung ein dezentralisierter Einheitsstaat und ist dann seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etappenweise in einen Bundesstaat umgewandelt worden. Dieser Entwicklungsprozess ist die eigentliche Grundlage für den heutigen Staatsaufbau Belgiens. Ohne diese Entwicklung gäbe es auch keinen deutschsprachigen Landesteil mit dem Ausmaß an Autonomie, über das dieser heute verfügt.
Dieser Umwandlungsprozess ist ein zweiter wichtiger historischer Einschnitt, der die heutige Situation der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien erklärt. Das kann man relativ einfach zusammenfassen. Dieser ganze Entwicklungsprozess – dazu werde ich Ihnen noch einige Dinge sagen – ist im Wesentlichen die Geschichte eines Konfliktes zwischen Flamen und Frankophonen in diesem Lande. Dieser Konflikt zwischen zwei Partnern, der schon seit der Gründung Belgiens die Geschicke des Landes beeinflusst, ist vor allem deshalb so heftig, weil er zwei sehr unterschiedliche Volksgruppen gegenüberstellt: die Wallonen romanischer Tradition und die Flamen germanischen Einschlags. Da gibt es schon so einige Mentalitätsunterschiede, die man schon mit bloßem Auge erkennt, wenn man sich ein bisschen mit diesen beiden Menschenschlägen auseinandersetzt. Die Geschichte Belgiens ist eigentlich die Geschichte des schwierigen Verhältnisses zwischen diesen beiden Landesteilen. Sie wissen ja, wie das ist. Es ist viel einfacher, sich zu 16 zu streiten, wie es in der Bundesrepublik der Fall ist, als zu zweit. Das ist wie in jeder Ehe… wenn Sie mit Ihrer Frau oder mit Ihrem Mann richtig Krach haben, dann geht es immer sehr bipolar zu… dann gibt es nicht noch 10 andere, die ausgleichend irgendeinen Einfluss ausüben könnten.
Ein solch konfliktuelles Zweierverhältnis ist immer sehr hart im Nehmen und im Geben. Besonders hart wird es dann – so wie in Belgien der Fall – wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Partnern im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat. Um es ganz einfach zu sagen, war Belgien zu Beginn der Staatsgründung ein von der französischsprachigen Bourgeoisie dominiertes Land mit einem reichen Wallonien, mit seiner Kohle- und Stahlindustrie, und einem sehr armen ländlichen Flandern. In dem nördlichen Landesteil sprachen die Menschen zwar Flämisch, aber auch hier wurden alle wichtigen Posten von Frankophonen besetzt. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes und mit dem progressiven Niedergang der wallonischen Kohle- und Stahlindustrie, der mit einem Erblühen der flämischen Wirtschaft (u.a. auch wegen der Seehäfen) einherging, hat sich dieses Kräfteverhältnis im Laufe von fast zwei Jahrhunderten gewandelt. Aus den ehemals starken Frankophonen und schwachen Flamen sind heute starke Flamen und etwas schwächere Frankophone geworden. Das große Problem dieses Landes ist – das habe ich vor kurzem noch ganz vertraulich einer Journalistin gesagt (um sicher zu sein, dass ich es auch veröffentlichen würde und diese Rechnung ist aufgegangen) – dass sich in Belgien eigentlich jeder als Minderheit fühlt oder so benimmt.
Die Deutschsprachigen natürlich sehr evident mit 0,7% der Bevölkerung; die Frankophonen sind eine Minderheit geworden, aber wissen es zum Teil noch nicht und benehmen sich noch immer so wie die frühere Mehrheit; bei den Flamen kann man sehr leicht feststellen, dass sie viele Reflexe haben, die man nur verstehen kann, wenn man sie aus der Sicht einer ehemals unterdrückten Minderheit analysiert. So ist Belgien ein Land voller Minderheiten. Deshalb ist es ja auch das Land, das als eines der wenigen in Europa die Europaratskonvention zum Schutz nationaler Minderheiten noch nicht ratifiziert hat – wohl aber unterschrieben.
Belgien ist also ein konfliktreiches Land. Die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat ist der – übrigens erfolgreiche, oder zumindest bisher erfolgreiche Versuch, diesen Volksgruppenkonflikt auf friedliche Art und Weise zu lösen, indem man einen Einheitsstaat in einen Bundesstaat umwandelt. Statt ehemals getrennte Teile zusammenzubringen wurde in Belgien demnach etwas, das nicht mehr so richtig harmonierte, nach Tisch und Bett getrennt, um die Reibungsflächen oder die Schnittmengen so zu reduzieren, dass nicht jedes Problem durch das Verhalten des Anderen erklärt wird und wo jeder mehr eigene Verantwortung hat. Das ist die Dynamik des belgischen Föderalismus. Ihn gilt es zu verstehen, wenn man die einigen wenigen Unterschiede verstehen möchte, die es zwischen dem deutschen Bundesstaatsmodell und dem belgischen Bundesstaatsmodell gibt.
Dieser sehr spannende Prozess der Umwandlung hat bisher noch an keinem anderen Ort funktioniert; weder in der Tschechoslowakei noch auf Zypern und auch nicht zwischen Serbien und dem Kosovo. Dieser Prozess, bei dem die Partner sich progressiv auseinander dividieren und trotzdem noch zusammenbleiben, ein Gleichgewicht zwischen Gemeinsamkeiten und eigenständigen Dingen finden, hat vor gut 50 Jahren begonnen. Er ist immer noch im Gange. Die belgische zeitgenössische Situation ist der lebendige Beweis dafür, dass das alles immer noch nicht vollendet ist.
Wir haben 5 Etappen dieses Umwandlungsprozesses hinter uns. Die sechste Etappe, die eigentlich schon 2002/2003 hätte beginnen sollen, die 2007 durchstarten sollte, hat sich festgefahren und bewegt sich nicht. Das ist das aktuelle Problem, mit dem Belgien sich herumschlägt. Wenn man die Dinge etwas aus der Perspektive sieht, ist ziemlich klar, wohin der Trend gehen wird. Es wird entweder eine weitere Etappe dieses Umwandlungsprozesses geben, mit in Zukunft noch mehr Verantwortung, Zuständigkeiten und Autonomie für die Gliedstaaten; oder aber, es gibt auf diesem Weg irgendwo einen Unfall, der das Ganze zum Zerbrechen bringt. So einfach sind die belgische Geschichte und ihre vorhersehbare Zukunft.
In dieses ganze, an sich schon spannende Thema, fällt auch noch hinein – so als ob es nicht genügend Probleme gäbe – die Situation der kleinen deutschsprachigen Minderheit. Wenn die Flamen und Wallonen uns immer sagen: „Was, jetzt kommt ihr noch mit euren Problemen?“, dann sage ich immer ganz gelassen (heute, nach 20 Jahren Minister-Dasein, gelassener als vor zwei Jahrzehnten): „Tja, das ist euer Problem. Wir haben nicht darum gebeten, Teil dieses Landes zu werden. Ihr habt uns gewollt und jetzt müsst ihr mit uns fertig werden!“ Meistens klappt das eigentlich sehr gut.
Wie läuft das? Das wollte ich Ihnen ja eigentlich gesagt haben… das klappt ganz einfach. Jedes Mal, wenn die Flamen und Wallonen irgendwo an dem belgischen institutionellen „Konstrukt“, an der institutionellen Architektur, etwas verändern oder herumschrauben, dann hat das auch Auswirkungen auf die deutschsprachige Minderheit. Wir sind vor allem dann immer sehr wachsam und sagen: „Wenn ihr das für euch macht (ob das jetzt sinnvoll ist oder nicht, müsst ihr selbst wissen), dann heißt das für uns Folgendes: …“. Man muss auf die Situation der Minderheit stets das anpassen, was die beiden Partner für sich selbst „zusammengebastelt“ haben. Das ist die Strategie, die wir seit vielen Jahrzehnten als Deutschsprachige Gemeinschaft verfolgen, die uns zuerst 1973 eine provisorische Lösung, und seit nun etwa 25 Jahren, seit dem 31. Januar 1984, eine sehr herausragende Rechtsstellung in Belgien geschaffen hat; nämlich die einer Region mit Gesetzgebungshoheit, wie das im EU-Deutsch heißt oder wenn Sie es bundesdeutsch übersetzt haben wollen, die Situation eines Bundeslandes mit eigener Gesetzgebungshoheit (mit einem Landtag und mit einer eigenen Landesregierung), wenn man das mit der BRD vergleichen möchte.
Wenn meine erste wichtige Aussage also jene ist, dass sich in Belgien alles aus dem Konflikt zwischen Flamen und Wallonen erklärt, so würde ich die zweite daher wie folgt formulieren: Belgien ist im Grunde genommen ein Bundesstaat wie jeder andere. Er ist zum Teil übrigens viel einfacher gestrickt als die Bundesrepublik. Es gibt eigentlich nur zwei, drei Besonderheiten, die für deutsches Vorverständnis das Ganze etwas undurchsichtig machen. Ich bin überzeugt, dass Sie das alle (wenn schon nicht bei der ersten Erklärung, zumindest dann verstanden haben werden, wenn ich Ihnen nach meinem Vortrag einen Text verteilen lasse, den ich vor etwa einem Jahr bei den Lions-Freunden in Brüssel gehalten habe. Sie entschuldigen! Es gibt einen deutschsprachigen Lions-Club in Brüssel. Die hatten mich mal eingeladen, aber dabei kein Essen organisiert. Dort habe ich das Ganze in anderthalb Stunden erklärt. Ob die am Ende satt waren, weiß ich nicht. Jedenfalls haben wir das Ganze aufgeschrieben. Diesen Text gebe ich Ihnen gerne mit nach Hause, falls Sie mehr über den Vergleich zwischen dem belgischen und dem deutschen Bundesstaatsmodell erfahren möchten.
Vielleicht noch einige abschließende Bemerkungen (das ist ja immer das Schlimmste, wenn jemand sagt: Ich komme zum Schluss, dann dauert das meistens noch 20 Minuten). Eine erste Erkenntnis. Belgien ist die Geschichte eines turbulenten Verhältnisses zwischen zwei Volksgruppen, die einige Probleme miteinander haben, sich trotzdem immer wieder zusammenraufen und das mit Erfolg! Zweitens, diese deutschsprachige Minderheit ist nicht der wirklich Dritte im Bunde, dafür ist sie viel zu klein. Sie ist vielmehr historisch „per Zufall“ hinzugekommen, hat jetzt ihren Platz in diesem Staatsaufbau gefunden und muss damit klar kommen. Ja, sie spielt in diesem System auch eine kleine bescheidene Randrolle.
Ich habe es einst mit dem schönen Instrument (vor allem, wenn man die Bezahlung der Künstler kennt) des Triangels verglichen. Sie haben alle schon mal ein Konzert irgendwo gehört. Sie wissen ja, wie bedeutend der Triangelspieler ist. Er ist nicht der Dirigent, nicht die erste Geige auch keine Posaune, er kommt hin und wieder (wenn man hoch genug sitzt, sieht man ihn aus der hinteren Ecke des Orchestergrabens herbei schleichen), stellt sich hin und muss auf sein Triangel schlagen, wenn der Augenblick gekommen ist. Wenn er das richtig macht, merkt das kein Mensch. Aber stellen Sie sich vor, der hat verpennt, kommt hereingestürzt, haut auf sein Triangel und niemand hatte das vorgesehen. Die ganze Vorstellung wäre natürlich vermurkst! So ähnlich ist das auch mit den deutschsprachigen Belgiern in der „Deutschsprachigen Gemeinschaft“.
Es stellt sich gleich die Frage, was sie sich eigentlich unter dem Begriff „Gemeinschaft“ vorstellen. In der deutschen Umgangssprache denkt man doch gleich an etwas Nettes, Kuscheliges, in welches man sich mag oder zugehören muss. Die einen denken an eine Religionsgemeinschaft, die anderen an eine Sekte, wieder andere an einen Kegelklub. Die Juristen unter Ihnen, die vom Privatrecht ein bisschen Ahnung haben, werden vielleicht an das eheliche Güterrecht denken. Da spricht man auch von Gemeinschaft. All das ist eine Gemeinschaft im belgischen Sprachgebrauch nicht. Die deutsche Rechtsterminologie belgischen Rechtes nennt eine Gemeinschaft das, was man „mutatis mutantis“ ein Bundesland nennt, aber eben nur fast… weshalb nur fast, werde ich Ihnen gleich erklären. Jedenfalls müssen Sie sich klar werden, wenn Sie in Belgien von „Regionen und Gemeinschaften“ reden hören, entspricht das in etwa dem, was Sie in Deutschland als Bundesland kennen (ein Gliedstaat in einem Bundesstaat). Die Schweizer kennen die Kantone; die Kanadier die Provinzen und wenn Spanien ein Bundesstaat wäre (was es noch nicht so ganz ist), dann würde man da so etwas Ähnliches finden, nämlich die Comunidades Autónomas (die einige Gemeinsamkeiten mit den belgischen Gemeinschaften aufweisen).
Belgien funktioniert wie ein Bundesstaat, aber einer der – wie ich eben versucht habe zu erklären – aus diesem Prozess des ‚Sich Voneinander Entfernens’ entstanden ist und nicht des ‚Aufeinander Zugehens’. Aus diesem Grund wird in Belgien beim Aufbau des Staates stets darauf geachtet, die Verantwortlichkeiten zu trennen. Das macht das belgische System auch so einfach.
In Belgien weiß man sehr schnell, wer für die Gesetzgebung zuständig ist. Wir haben nicht so komplizierte Geschichten wie früher mal die Rahmengesetzgebungskompetenz, die man ja im Windschatten der Fußball-WM 2006 abgeschafft hat; auch nicht die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die man im selben Windschatten enorm kompliziert hat, indem man dieses komplexe System geschaffen hat, indem eigentlich die Länder zuständig sind, der Bund aber, unter den im Grundgesetz vorgesehenen Voraussetzungen einschreiten darf, die Länder aber dann wiederum diesen Bundesgesetzen gegenüber derogative Bestimmungen festlegen können, wie es etwa im Hochschulbereich der Fall ist. All das gibt es in Belgien nicht.
In Belgien gibt es nur ausschließliche Kompetenzzuweisungen. Entweder ist der Bund zuständig oder die Länder. Kompetenzen, die in etwa einer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nach deutschem Vorbild entsprächen, gibt es überhaupt nicht. Selbst das, was man früher als Rahmenkompetenz kannte, gibt es in Belgien so auch kaum (mit ganz wenigen Ausnahmen). Das belgische System funktioniert nach dem Prinzip ‚entweder oder’. Daher braucht man viel weniger Urteile des belgischen Verfassungsgerichteshofes zu lesen, als das mit dem Bundesverfassungsgericht der Fall ist, wenn man genau wissen will, wer nun etwa in Raumordnungsangelegenheiten oder in anderen Bereichen zuständig ist. Das ist schon mal ein Unterschied, der beweist, dass das deutsche System viel komplizierter ist als das belgische.
Der zweite Beweis ist noch viel beeindruckender. Man kann sich in Belgien gar nicht vorstellen, dass es so etwas geben könnte wie das, was in Deutschland der Regelfall bei der Ausführung von Bundesgesetzen ist. In Deutschland werden in der Regel Bundesgesetze (außer wenn das Grundgesetz etwas anders vorsieht) als landeseigene Angelegenheit von den Landesregierungen ausgeführt. Jedes deutsche Bundesgesetz hat 16 Ausführungserlasse in den einzelnen Bundesländern! Der Bundesminister ist nicht derjenige, der in der Regel die Bundesgesetze ausübt, sondern der Landesminister. Der Bundesminister ist derjenige, der die Rechtsaufsicht hat, es sei denn, wir haben es mit der Landesauftragsverwaltung zu tun oder wir sind in den wenigen Fällen, in denen das Grundgesetz dem Bund erlaubt, eigene Verwaltungen aufzubauen, also ein völlig anderes System der Ausführung und der Verlagerung der Zuständigkeiten. In Belgien ist das völlig unvorstellbar. In Belgien ist immer derjenige, der für die Gesetzgebung zuständig ist, auch für die Ausführung der Gesetze zuständig.
Er ist sogar für die internationalen Beziehungen in seinen Angelegenheiten zuständig, was z.B. die sehr spektakuläre Konsequenz hat, dass der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, der für 18 Millionen Menschen zuständig ist, bedeutend weniger internationale Kompetenzen hat, als ich (mit meinen 75.000 Einwohnern). Das ist sehr beeindruckend, wenn wir darüber reden. Ich war jetzt noch vor kurzem auf dem Petersberg in Bad Godesberg. Wir konnten uns über derlei Geschichten unterhalten. Belgien könnte den Lissabon-Vertrag nicht ratifizieren, wenn das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft, dem nicht zustimmen würde! Alles Dinge, die in Deutschland unvorstellbar sind! Der Bund achtet mit Argusaugen auf seine internationalen Zuständigkeiten.
Ich verbringe jetzt ohne Scherz viel meiner Zeit im Auswärtigen Amt in Berlin (die belgische Botschaft liegt übrigens sehr schön fast genau daneben), um solche Dinge zu erklären, um mit gewissen Angelegenheiten voran zu kommen. Dann kann ich sagen: „Das ist zwar sehr schön, aber in dieser Angelegenheit bin ich der zuständige Mann in Belgien. Wenn der Bund etwas unternehmen möchte, dann müssen wir das halt eben jetzt hier besprechen. Sie müssen mir schon mindestens einen Staatssekretär schicken, wenn ich zu Besuch komme, sonst komme ich nämlich nicht… das läuft aber auch sehr gut!“
Diese Dinge sind sehr einfach in Belgien. Das Prinzip der ausschließlichen Zuständigkeiten (bei Gesetzgebung und auch bei der Verwaltung) vereinfacht den belgischen Staatsaufbau im Vergleich zum bundesdeutschen. Auch die Tatsache, dass in Deutschland (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz oder Brandenburg) die Gemeindeordnungen völlig verschiedene Strukturen vorsehen, die Amtsgemeinde in Brandenburg z.B. ist so etwas Ähnliches wie in Belgien eine Polizeizone; eine Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz (das weiß man ja nicht einmal in Nordrhein-Westfalen, was das genau ist); oder fragen Sie mal irgendjemand außerhalb NRWs was ein Landschaftsverband ist. Das sind alles Dinge, die sehr viel komplexer sind. Das ist in Belgien relativ einfacher.
Ja, nun würde ich Sie natürlich doch zu sehr überraschen, wenn ich sagen würde, dass es in Belgien nichts Kompliziertes gibt. Denn irgendwie hat doch jeder den Eindruck, Belgien ist ein bisschen kompliziert. Ein bisschen kompliziert ist es in der Tat! Das möchte ich Ihnen jetzt – nach der nötigen Einleitung – zumuten. Kompliziert ist in Belgien eigentlich nur die Organisation der Landesebene, die aber sehr wichtig ist.
Man muss wissen, dass es in Belgien keine Bundesparteien gibt. Das ist noch ein drittes Element, das Sie vielleicht mit nach Hause nehmen können. Man kann sich das als Nicht-Belgier nur schwer vorstellen. Das wäre so, als bestünde die Situation der CSU in Bayern fünf Mal – und das in jeder anderen politischen Richtung. Man müsste das Ganze im Falle der Bundesrepublik mit sechzehn multiplizieren und anschließend die Gesamtzahl der Parteien bitten, eine Bundesregierung zu bilden. (Diesen Vergleich habe ich übrigens mal dem damaligen Ministerpräsidenten von Bayern im Aachener Kaisersaal gegenüber aufgestellt, als dieser von der Ministerpräsidenten-Konferenz als Ministerpräsident verabschiedet wurde und einige Tage danach Bundesminister werden sollte. Letztendlich sollte er es dann doch nicht werden und kam wieder zurück… das ist aber eine andere Geschichte). Jedenfalls ist die ‚Regionalisierung’ der belgischen Parteilelandschaft ganz fundamental zum Verständnis Belgiens. Zwischen den flämischen Liberalen und den frankophonen Liberalen, Christdemokraten oder Sozialdemokraten gibt es keine strukturelle Verbindung, keinen gemeinsamen Chef, um machtpolitisch zu reden. Es sind unabhängige Parteien. Deshalb ist die Bildung einer Bundesregierung in Belgien auch so schwierig; weil hier nämlich Landesparteien die Bundesregierung bilden. Wenn man das verstanden hat, werden die meisten Skurrilitäten, die Sie so manchmal lesen, bzw. bei der ARD oder sonst wo hören und sehen, viel leichter verständlich.
Das eigentlich Komplizierte an dem Ganzen ist noch etwas anderes. Nämlich die Tatsache, dass man die Landesebene zweigliedrig aufgebaut hat. Man hat aus dem, was anderswo ein Bundesland ist, „Regionen und Gemeinschaften“, also zwei verschiedene ‚Sorten’ von Körperschaften gemacht, die parallel für unterschiedliche Sachgebiete und darüber hinaus für nicht miteinander übereinstimmende Territorien zuständig sind. Jedoch haben sie dieselben Machtbefugnisse in ihren jeweiligen Bereichen. Das ist kaum nachvollziehbar für irgendjemand Anderen als einen Belgier.
Das wird spätestens dann sehr schwer zu verstehen, wenn man bedenkt, dass dieses System nicht nur bizephal (zweigliedrig), sondern auch noch asymmetrisch organisiert ist. Die „Blackbox“ des belgischen Föderalismus ist diese asymmetrische Zweigliedrigkeit der Landesebene. Lassen Sie mich das an einer kleinen Geschichte verdeutlichen … Wenn der nordrhein-westfälische Ministerpräsident zur Wallonie fährt (zu seinem dortigen Kollegen) und gerne ein Gespräch mit dem Hochschulminister hätte, wird der wallonische Ministerpräsident ihm sagen müssen, dass Hochschulangelegenheiten leider Gemeinschaftsangelegenheiten sind. Daher gibt es keinen Hochschulminister in seiner Regierung. Dann wird Herr Rüttgers wahrscheinlich verdutzt dreinschauen und sich sagen „wenn er das sagt, wird das ja wohl stimmen…“. Da Herr Rüttgers nun diplomatisch doch so gut beraten ist, dass er nie zur Wallonie fährt, ohne auch gleichzeitig nach Flandern zu fahren, wird er natürlich auch den flämischen Ministerpräsidenten besuchen und ihm vielleicht anvertrauen: „Ich hätte aber sehr gerne mit Ihrem Hochschulminister gesprochen, aber in Belgien haben die Regionen ja keinen Hochschulminister…“ Dann wird der flämische Ministerpräsident sagen: „Wieso? Natürlich habe ich einen Hochschulminister!“ Spätestens dann fängt Herr Rüttgers an, sich zu fragen: „Wo bin ich hier gelandet?“ Wie der Zufall es will, könnte es ja sein, dass er bei der Rückfahrt irgendwo noch einmal kurz vor der Grenze seinen wallonischen Kollegen trifft und ihm dann sagt: „Das ist aber ein Ding, dass ich bei deinem flämischen Kollegen durchaus einen Hochschulminister treffen konnte.“ Spätestens dann wird der wallonische Minister verstehen, dass er eine Dummheit begangen hat. Denn wenn Herr Rüttgers einen Hochschulminister treffen will, sollte man ihn den auch besser treffen lassen… Das könnte ja Konsequenzen für die weitere Zusammenarbeit haben. Daraufhin könnte Herr Demotte sagen: „Ja, das stimmt zwar formell, dass ich keinen Hochschulminister habe, aber natürlich ist auch in meiner Regierung jemand, der in der Französischen Gemeinschaft die Funktion des Hochschulministers hat.“ Dann hat Herr Rüttgers vermutlich immer noch nichts verstanden… Aber so ist das mit der asymmetrischen Zweigliedrigkeit.
In Belgien ist es nämlich so, dass die Gemeinschaften und Regionen unterschiedliche Sachzuständigkeiten haben. Die Gemeinschaften sind (unter anderem) für Kultur, Bildung, soziale Angelegenheiten zuständig und die Regionen für Raumordnung, Beschäftigung, Kommunen, Umweltpolitik, Wirtschaftsförderung, usw.
Es gibt drei Regionen und drei Gemeinschaften. Die drei Regionen sind Flandern, Brüssel und die Wallonie. Die Gemeinschaft sind die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft. Diese beiden Gebietskörperschaften (Regionen und Gemeinschaften) entsprechen fast demselben Territorium. Es gibt jedoch kleine Unterschiede. So werden Sie gemerkt haben, dass Brüssel zwar eine Region, jedoch keine Gemeinschaft ist und dass bei den Regionen die Deutschsprachige Gemeinschaft nicht vorkommt. Auch das kann man logisch nicht nachvollziehen. Wenn man jedoch die Geschichte Belgiens kennt und diesen Konflikt, von dem ich eben gesprochen habe, ahnt man, dass dies das Ergebnis des belgischen Kompromisses ist. So hat man ein scheinbar unlösbares Problem, nämlich eine totale Meinungsverschiedenheit zur Rechtsstellung Brüssels in Belgien, auf eine Art und Weise gelöst, die extrem kompliziert ist, die aber sowohl den Flamen als auch den Wallonen Recht gibt. Man hat nämlich irgendwann beschlossen, aus Brüssel eine Region, aber keine Gemeinschaft zu machen. Was die Gemeinschaftsbefugnisse angeht, machen die Französische Gemeinschaft und die Flämische Gemeinschaft in Brüssel jeweils das, was sie gerne möchten. Das Gebiet Brüssel (diese 19 Gemeinden) ist demnach Staatsgebiet von drei Bundesländern, wovon zwei (die Flämische und die Französische Gemeinschaft) die selben Zuständigkeiten haben und die Menschen wählen können, ob sie sich der einen oder anderen Rechtsordnung unterwerfen, ohne sich jedoch definitiv zu der einen oder anderen bekennen zu müssen. Das ist eine geniale Lösung für einen so unlösbaren Konflikt wie demjenigen, den Flamen und Wallonen zu Brüssel haben. Wenn man das in Jerusalem machen würde, hätte man das Problem sofort gelöst. Man müsste aber auch noch alle davon überzeugen können, dass sie ihre Kalaschnikows zu Hause lassen und sich auch keine Bomben um den Leib binden.
Diese Lösung für Brüssel – das ist jetzt meine Wertung – ist jedoch eine Übergangslösung. Denn auf Dauer kann so etwas nicht funktionieren. Man hat es gebraucht, um überhaupt den Einstieg in die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat hinzukriegen. Die Flamen mussten sagen können, Brüssel ist kein gleichberechtigter Bestandteil des belgischen Bundesstaates (weil dies für die Flamen ein von der frankophonen Bevölkerung nach und nach übervölkertes flämisches Gebiet ist), während den Wallonen in gewisser Weise Recht gegeben werden musste, das Brüssel eine Region wie die anderen ist. Aus diesem Grund hat man eben diese komplizierte Zweigliedrigkeit erfunden. Damit das Ganze wirklich funktioniert, hat man das Ganze zudem asymmetrisch gestaltet. So haben die Flamen ausgehend von dieser Aufteilung des Staates, dass die Flämische Region und die Flämische Gemeinschaft dasselbe Parlament und dieselbe Regierung haben sollten (natürlich war diese Entscheidung rechtlich abgesichert – es gibt dafür auch einige Bestimmungen in der Verfassung und in Gesetzen). Man muss schon mit der Lupe hinschauen, um zu sehen, ob das Flämische Parlament jetzt als Gemeinschaft oder Region beschlossen hat (der einzige Unterschied ist, dass die Brüsseler Flamen bei Regionalbeschlüssen im Gegensatz zu den Gemeinschaftsbeschlüssen nicht mit abstimmen dürfen). Bei den Wallonen ist man anders vorgegangen. Dort hat man die Sachen getrennt gelassen, die man durch eine Fusion Brüssel als eigenständige Einheit geschwächt hätte. Da man aber natürlich auch genauso effizient sein wollte, wie die Flamen hat man die Französische Gemeinschaft nach und nach ihrer Zuständigkeiten beraubt und diese an die Wallonische Region übertragen. So hat man festgelegt, dass das Parlament der Französischen Gemeinschaft aus den Parlamentariern der Wallonischen Region und einem Teil der Parlamentarier aus Brüssel besteht und ein Minister der Französischen Gemeinschaft gleichzeitig auch Minister in der Wallonischen Region sein kann. Momentan hat man sogar zum zweiten Mal gemeinsam den Haushalt gemacht, was natürlich eine ganz wichtige Sache ist.
Warum – werden Sie sich fragen – mache ich einen solchen Umweg, wenn ich doch eigentlich über die Deutschsprachige Gemeinschaft sprechen wollte? Nun man muss all das wissen, wenn man verstehen will, wieso die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien als eine Gemeinschaft angesehen wird, aber nicht als eine Region. Die Frage, was Gemeinschaften und Regionen ausmachen und welche unterschiedlichen Zuständigkeiten sie haben, spielt für die Deutschsprachige Gemeinschaft in letzter Instanz jedoch gar keine Rolle. Sie möchte lediglich die für sie notwendigen Kompetenzen vor Ort ausüben können, ob man die in Belgien nun gemeinschafts- oder regionale Angelegenheiten nennt. Deshalb haben wir auch dafür gesorgt, dass es seit 1983 in der belgischen Verfassung eine Bestimmung gibt, die es erlaubt, dass die Deutschsprachige Gemeinschaft sich (als einzige übrigens) von der Wallonischen Region regionale Kompetenzen übertragen lassen kann. Das ist noch ein weiteres Element der Asymmetrie.
Man kann nur verstehen, warum das so ist, wenn man weiß, weshalb es in Belgien Gemeinschaften und Regionen gibt. Deshalb sage ich immer, wenn ich die Deutschsprachige Gemeinschaft erklären will, muss ich Brüssel erklären! Das ist per Definition eine sehr schwere Aufgabe. Das erklärt aber auch, warum die Deutschsprachigen unbedingt nicht nur Gemeinschaftsangelegenheiten (in Bildung, Kultur und Soziales) haben wollen, sondern auch in anderen Dingen wie etwa Raumordnung, Beschäftigung, kommunalen Angelegenheiten und Wohnungsbau eigenständig sein möchten. Das ergibt sich einfach aus der Situation heraus. Die DG ist ein kleines Gebiet, aber eines, das unbedingt diese Parameter der Politikgestaltung braucht, wenn es die eigene Zukunft erfolgreich gestalten will. So hängt eben die Deutschsprachige Gemeinschaft schicksalhaft ab von dem, was sich in Belgien an Veränderungen beim institutionellen Aufbau ergibt und – zwar nicht ganz allgemein, sondern ganz präzise – auch von den Kompromissen zu dem Teil Belgiens, der eigentlich das Auge des Zyklons ausmacht, nämlich Brüssel. Die Rechtsstellung der Deutschsprachigen Gemeinschaft hängt existenziell von dem ab, was man zu Brüssel erfunden hat oder in Zukunft noch finden will. Wenn ich wirklich jemandem erklären muss, wie wichtig die Entwicklungen in und um Brüssel für die Deutschsprachigen sind, dann erkläre ich das. Aber so weit war ich in den letzten Wochen noch nicht gekommen, ich habe es bisher dabei belassen können, dass die Deutschsprachigen vor kurzem den Interessenkonflikt angemeldet haben, weil sie das belgische Staatswesen im belgischen Staat retten wollten. Das genügt ja auch schon mal…
Ein allerletztes Wort… dann bin ich wieder in Nordrhein-Westfalen. Ich habe eben gesagt, wie schön es ist, wenn man zu einem Kollegen sagen kann, „Herr Kollege“, auch wenn der 18 Millionen Menschen vertritt und man selbst nur 75.000… Aber, da ich nicht vorhabe, in meinem Alter noch depressiv zu werden, habe ich diesbezüglich folgende Überlegung aufgestellt: „Groß und klein“ ist eigentlich etwas sehr Relatives. Das ist so wie mit den Menschen. Es gibt welche, die größer und kleiner gewachsen sind und es ist gar nicht so einfach, das zu ändern. „Dick und dünn“, das kann man ein bisschen beeinflussen, aber das mit dem „groß und klein“ bestimmt nicht.
Schauen Sie sich mal ganz einfach einen unserer besten Nachbarn an: Das Großherzogtum Luxemburg. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker ist regelmäßig in China. Er hat sogar in einer belgischen Zeitung vor kurzem erklärt, dass er durchaus ein guter EU-Präsident wäre, weil er beste Beziehungen zu Putin und China hat (was übrigens stimmt). Ob das jetzt genügt, um Präsident zu werden, ist eine ganz andere Frage, das ist vielleicht eher ein Nachteil, weil nämlich ein paar Leute wie z.B. in Berlin oder Paris, denken könnte, „Der Mann ist uns zu mächtig“. Und die Tatsache, dass Herr Juncker so bedeutungsvoll in Europa geworden ist, hat bestimmt nichts damit zu tun, dass das Verhältnis zwischen den 400.000 Luxemburgern und den 1,3 Milliarden Chinesen noch schlechter ist als jenes zwischen den 75.000 Deutschsprachigen und den 6 Millionen Flamen!
Natürlich ist die DG ein sehr kleines Gebiet und eine der kleinsten Regionen mit Gesetzgebungshoheit auf der ganzen Welt. In der Europäischen Union sind wir von allen Bundesstaaten das kleinste Bundesland. Erst wenn die Schweiz beiträte, was noch nicht vor morgen früh geschehen wird, gäbe es sechs Kantone, die noch kleiner sind, als die Deutschsprachige Gemeinschaft. Weltweit sind wir auf Platz 21 der kleinsten Gliedstaaten. Die zwei kleinsten sind – was ja auch naheliegend ist – zwei kleine Gliedstaaten von Mikronesien. Es gibt noch 18 andere Gliedstaaten weltweit, die bevölkerungsmäßig noch kleiner sind als die Deutschsprachige Gemeinschaft – von der Fläche her, kann man das natürlich anders aufteilen.
Für uns ist jedoch noch eine ganz andere Sache von entscheidender Bedeutung, nämlich die, dass wir in einer Grenzregion leben, in einer Grenzregion, die eine sehr schwierige Geschichte und höchst interessante Nachbarn hat: zwei deutsche Bundesländer (Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz), ein unabhängiger Staat (das Großherzogtum Luxemburg), eine Provinz mit sehr vielen Besonderheiten im Königreich der Niederlanden (Provinz Limburg), die gesamte belgische Vielfalt (Flandern und die Wallonie), die belgische Provinz Limburg, in der wir uns jetzt befinden, die Provinz Lüttich und die Provinz Luxemburg, all das ergibt eine wunderbare Vielfalt an Nachbarn, in der auch unterschiedliche Mentalitäten, Sprachen, Kulturen und Verwaltungssysteme anzutreffen sind.
Wenn man so klein ist wie die Deutschsprachige Gemeinschaft, hat man natürlich einen großen Bedarf nach Zusammenarbeit. Es gibt immer irgendwo jemanden in unmittelbarer Nachbarschaft, der das, was wir machen wollen, schon mal versucht hat (manchmal mit Erfolg). Wenn es mit Erfolg war, versuchen wir dann, uns bei ihm ein bisschen „anzuhängen“ und mit ihm gemeinsam etwas zu machen, um eben unnötige Fehler zu vermeiden.
Das ist das Schicksal dieser kleinen Region im Osten Belgiens, die ich versucht habe, Ihnen etwas näherzubringen. Ich hoffe, Sie wissen jetzt ein klein bisschen mehr über die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens und vielleicht noch ein klein wenig mehr über Belgien und warum es so tickt, wie es tickt… ansonsten wünsche ich Ihnen jetzt wirklich guten Appetit!
Vielen Dank!