Reden

Die DG, eine Grenzregion auf dem Weg nach Europa


Die DG, eine Grenzregion auf dem Weg nach Europa
(anlässlich der Europawoche 2010 in Oberkirch)

 06/05/2010

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Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Landrat,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

es stimmt, mit meinem Namen kann man nicht sehr viel anfangen, es sei denn, man denkt an die Aachener Printen.  Das bedeutendste Haus der „Aachener Printen“, das sogar Nürnberger Lebkuchen-Betriebe aufgekauft hat, trägt den Namen Lambertz.  Ich werde sehr oft gefragt, ob ich mit dieser Familie verwandt bin.  Ich muss das leider immer dementieren.

Mit dem Namen hat das schon so etwas an sich… gestern Abend hatte ich beispielsweise in Aachen die Gelegenheit, an einem Abendessen teilzunehmen, wo neben mir ein Herr Philip saß, nämlich der Oberbürgermeister der Stadt Aachen, der der Sohn des ehemaligen Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks ist.  Wir feierten ein Ereignis, das jetzt zeitgleich mit diesem hier in Aachen stattfindet, nämlich die Vergabe der „Médaille Charlemagne du mérite pour les médias“ an André Rieu.  Dieser Veranstaltung kann ich nicht beiwohnen.  Aber ich habe André Rieu schon so oft im Fernsehen und sonst wo gehört, dass ich eigentlich (das kann ganz ehrlich sagen) sehr viel lieber zu Ihnen heute Abend gekommen bin, um über etwas zu reden, mit dem ich mich sehr verbunden fühle; über meine Heimat, die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, und über Europa.

Um die Dinge einfach zu machen, habe ich als Titel meines Beitrages direkt ein Inhaltsverzeichnis mitgeliefert.  Worüber werde ich reden?  Über die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, über Grenzregionen, über Europa und über den Weg dorthin.  Das alles zusammen ist schon ein ganzes Programm, aber es soll kein abendfüllendes werden… ich werde auch versuchen, ehe die ersten unter Ihnen einschlafen, zum richtigen Zeitpunkt den Absprung von diesem Rednerpult zu finden.

Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (DG) – das Wichtigste haben Sie bereits gesagt, Herr Philip: in Belgien werden drei Sprachen gesprochen, wobei es sehr oft vorkommt, dass man mich fragt: „Wie spricht man eigentlich Belgisch?“.  Die Antwort ist dann meistens etwas schwierig, zumindest kann man diese Sprache nicht vorreden. Dass Belgien zwei Sprachen kennt, zwei Sprachgruppen (die Flamen und die Frankophonen), das ist bekannt.  Das ist auch deshalb bekannt, weil diese beiden, seitdem sie zusammen leben in diesem belgischen Staat, seit 1830, ständig Streit haben und es sogar geschafft haben, kurz vor dem Beginn der Europäischen Präsidentschaft Belgiens am 1. Juli d.J. eine Regierungskrise herbeizuzaubern, sodass wir am 13. Juni Bundeswahlen in Belgien haben.  Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass es bis zum 1. Juli keine neue Regierung gibt.  Das wird aber der belgischen Präsidentschaft nicht all zuviel Schaden zufügen.  Es hat jedoch vielleicht einen weniger guten Einfluss auf das Image Belgiens, aber diesen Fehler werden die Belgier so schnell nicht noch einmal machen können. Es wird noch sehr lange dauern, bis sie noch einmal die Gelegenheit haben, eine europäische Präsidentschaft auszuüben.  Bis dahin hoffen wir alle, dass dieser spannende Prozess der Umwandlung Belgiens von einem ehemals dezentralisierten Einheitsstaat in einen Bundesstaat endgültig abgeschlossen ist; wobei es mit der Föderalismusreform und dem endgültigen Abschließen dergleichen ja so seine Bewandtnis hat. Hätte es nicht die Fußballweltmeisterschaft 2006 in der Bundesrepublik Deutschland gegeben, wäre vielleicht auch nicht so schnell, problemlos und unbemerkt die größte Novellierung des Grundgesetzes in der Geschichte der Bundesrepublik über die Bühne gegangen. Die Föderalismusreform hat damals vieles im deutschen Bundesstaatsmodell geändert, ist aber im Schatten der Fußballweltmeisterschaft völlig unbemerkt verabschiedet worden.  Mit der Föderalismusreform II war es dann ein bisschen schwieriger, denn da ging es ums Geld und da hört ja meistens die Freundschaft auf.  Das ist übrigens in Belgien nicht anders.  Denn einer der wesentlichen Punkte, über die Flamen und Wallonen streiten, ist natürlich auch das Modell des Finanzausgleiches.  So weit und so viel zu Belgien…

Kommen wir zur Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.  Die Menschen, die dort leben, können zu Recht von sich behaupten (das ist keine Vision, sondern eine Feststellung), sie seien die „letzten“ Belgier. Ganz einfach deshalb, weil sie erst seit 1920 zu Belgien gehören.  Bis zu dem Zeitpunkt war dieses Gebiet, das viele von Ihnen aus dem Geschichtsunterricht wohl noch als (die Kreise) ‚Eupen – Malmédy“ kennen (auch wenn Malmédy heute nicht zum deutschen Sprachgebiet gehört), ein Stück Deutschlands, welches mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages an Belgien abgetreten wurde.  Folglich sind wir zu Recht die „letzten“ Belgier.  Wir hoffen nicht, dass wir die letztverbleibenden Belgier sind, so schwierig die Situation auch manchmal sein mag – sie sieht übrigens von außen betrachtet sehr viel heftiger aus, als sie in Wirklichkeit ist. Dennoch möchte ich die Konflikte zwischen Flamen und Wallonen nicht herunterreden, die Belgien immer wieder bis an die Existenzfrage bringen – In Flandern plädiert immerhin ein bedeutender Teil der politischen Landschaft für ein unabhängiges Flandern. Wir werden nach den Wahlen sehen, wie die Verteilung der Kräfte in den verschiedenen Landesteilen ausfallen wird. 

Dieses Belgien ist ein Vielvölkerstaat, sogar einer, in dem es nur zwei Partner gibt, die sich streiten. Das ist eine problematische Ausgangssituation, denn Sie können sicherlich nachvollziehen, dass es viel einfacher ist, sich zu 26 zu streiten (wie etwa bei den Schweizer Kantonen) oder zu 16 (wie bei den deutschen Bundesländern), als zu zweit! Das kennen Sie ja schon aus dem Privatleben.  Wenn man sich zu zweit streitet, fliegen die Fetzen meistens sehr heftig. Aber am Ende muss man sich dennoch jedes Mal wieder zusammenraufen, denn eine Scheidung ist oft so teuer, dass man davon letztlich absieht.  Das jedenfalls dürfte durchaus der Fall für Belgien sein.  Da unterscheidet sich etwa der belgische Fall von dem der ehemaligen Tschechoslowakei.  Eine Sezession, so wie wir sie in der jüngeren Geschichte mit dem Kosovo in Serbien gekannt haben, steht nicht vor der Tür. Dennoch werden wir spannende Zeiten durchleben. 

Belgien wird in den nächsten Monaten eine sehr fundamentale Weiterentwicklung seines Bundesstaatsmodells durchleben.  Dabei wird es auch um die Zukunft und das Schicksal der Deutschsprachigen Gemeinschaft gehen. Da müssen wir höllisch aufpassen (wir, die wir lediglich 0,7% der belgischen Bevölkerung ausmachen), dass wir nicht bei großen Kompromissen über den Tisch gezogen oder ganz einfach unter den Teppich gefegt werden.  Wir müssen für unsere Existenz kämpfen; wir müssen unseren Platz finden und dafür sorgen, dass wir auch morgen, genau wie wir es mittlerweile geworden sind, ein konstitutiver Bestandteil des belgischen Bundesstaates – kurzum, eines der belgischen Bundesländer – bleiben.

Dieses kleine sympathische Gebiet – das sich zudem aus zwei Unterregionen, aus einem Nordteil und einem Südteil, zusammensetzt – hat so einige Alleinstellungsmerkmale zu bieten.  Die bringen mich auch sehr schnell zu unserem heutigen Thema: Was also unterscheidet dieses Gebiet von anderen?  Ganz einfach die Tatsache, dass es sich um eine nationale Minderheit in Belgien handelt, die aufgrund der Geschichte Belgiens und nicht nur aus eigener Anstrengung heraus, eine ‚Region mit Gesetzgebungshoheit’ nach europäischem Jargon geworden ist – oder, wie ich es ganz gerne nenne, ein „Kleingliedstaat“.  Dieser Begriff ist abgeleitet von jenem der ‚Kleinstaaten’ – wir haben ja mit Luxemburg einen der sehr bekannten Kleinstaaten als Nachbarn.

Was aber ist die Besonderheit eines Kleingliedstaates?  Sie liegt darin, dass er hochrangige staatliche Befugnisse für ein kleines Gebiet ausübt, sehr nahe an der Wirklichkeit Gesetze machen und sie umsetzen kann und die Bürger wirklich noch den direkten Zugang zu ihren Verantwortlichen, auch auf der Regierungsebene, praktizieren können. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich in meinem Büro in Eupen, wo es keine Bodyguards und dergleichen gibt, Leute plötzlich vor meinem Tisch stehen habe, die sagen: „So, da bin ich aber nicht mit einverstanden! Jetzt machst du das mal so uns so und wenn nicht, spreche ich mit meinem Nachbarn (das ist der Vetter von deiner Schwester), um dich unter Druck zu setzen“.  Ich habe diese Art von „konkreter“ Politik, von hautnaher Politikgestaltung, mittlerweile schon seit 1981 und über ein 20-jähriges Ministerdasein hinweg überlebt. Das hat mir übrigens trotz meinem noch relativ bescheidenen Lebensalter das Privileg eingebracht, dass ich in Belgien mittlerweile der dienstälteste Minister bin.  Das hängt aber auch damit zusammen, dass es eine Zeit lang sehr viele schnelle Regierungswechsel (nicht so schnell wie in Italien vor einiger Zeit) gegeben hat. Da ich mittlerweile doch mit Sicherheit mehr politische Lebenserfahrung als Lebenserwartung habe, kann ich über diese Dinge auch noch sehr viel offener und freimütiger reden, als das zu Beginn meiner politischen Laufbahn der Fall war.

Wie gesagt, Kleingliedstaaten werden ganz nah an der Wirklichkeit verwaltet, aber sie haben auch ein Problem.  Es gibt eine Reihe Dinge, die sie nicht machen können, weil sie zu klein sind.  Es fehlen die Skaleneffekte. Das kann ein Handicap sein.  Die Kunst des Regierens in Kleingliedstaaten besteht darin, aus diesem Handicap einen Vorteil zu machen. Bei der Frage, wie man das anstellen kann, liegt die Verbindung zum heutigen Thema:  Erstens, indem man sich noch mehr als vielleicht sonst üblich, die Frage stellt: „Muss ich überhaupt was tun – Ist es für die öffentliche Hand nicht manchmal besser, nicht zu intervenieren?“  Es hat in vielen Fällen durchaus Sinn, darüber auch unter dem Druck der fehlenden Skaleneffekte gründlich nachzudenken.  Darüber hinaus wird es viele Bereiche geben, wo die öffentliche Hand durchaus handeln muss.  Wenn man hierbei nicht von dem Vorteil der Nähe profitieren kann, gibt es eine Zauberformel, die da heißt: Zusammenarbeit.  Das, was man alleine nicht machen kann, kann man in allen Fällen in Kooperation anpacken.  Wenn man dann in einer solch interessanten Grenzregion lebt, wie das bei der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien der Fall ist, haben Sie dafür eine unendliche Vielfalt an Möglichkeiten zur Verfügung. 

Dieses kleine Gebiet im Osten Belgiens, ganz in der Nähe zu Aachen und nicht weit von Trier und Luxemburg entfernt, kann sich bei der Suche nach den Kooperationspartnern an sehr viele erste Adressen wenden.  Wir können natürlich mit unseren belgischen Partnern zusammenarbeiten – wir sind die Einzigen in Belgien, die mit allen anderen Teilstaaten ein Kooperationsabkommen abgeschlossen haben. Flandern, Brüssel und die Wallonie sind immer bereit mit den Deutschsprachigen zusammenzuarbeiten. Das ist auch sehr präzise durch das belgische Verfassungsrecht geregelt. Wir können auch den Blick über die Staatsgrenze werfen und dort nach Kooperationspartnern suchen.  Das kann der südliche Zipfel des Königreiches der Niederlande sein, die niederländische Provinz Limburg (behaupten Sie nie von einem Limburger, er sei ein Holländer – der wird Sie das ganze Leben lang nicht mehr anschauen).  Wenn es im Norden an diesem Dreiländerpunkt (Deutschland-Niederlande-Belgien) nicht klappt, können wir in den Süden unseres Gebietes fahren (der ist nur 70 Kilometer vom nördlichsten Punkt entfernt, allerdings sind die Straßen so, dass man da ein bisschen mehr Zeit braucht). Im Süden liegt ein weiterer Dreiländerpunkt (Deutschland-Belgien-Luxemburg). Hier bietet sich beispielsweise die Kooperation mit dem Großherzogtum Luxemburg an – ein hochinteressanter Staat und übrigens sozusagen der ‚Garant meines psychologischen Gleichgewichtes’.  Immer dann, wenn ich Gefahr laufe, depressiv zu werden, weil die DG gerade mal knapp 2% des größten Gliedstaates in Belgien (Flandern) ausmacht, denke ich an meinen Nachbarn, den Premierminister Luxemburgs, Jean-Claude Junker und an seine viele Reisen zum Kreml (es ist übrigens auch sehr interessant, sich von Herrn Junker erzählen zu lassen, wie Putin seine Gäste in die private Kapelle des Kremls führt). Herr Junker reist übrigens in der letzten Zeit auch öfters nach China, um dort mit der Staatsspitze zu verhandeln und zu diskutieren.  Er hat es sogar geschafft, den Chinesen luxemburgischen Wein zu verkaufen.  Stellen Sie sich mal vor, jeder Chinese würde am Tag ein Glas luxemburgischen Weins trinken.  Das wäre eine Katastrophe, dann müsste man „Amtshilfe“ aus Baden-Württemberg beantragen, um hiesige Weine mit zu exportieren.  Das Großherzogtum Luxemburg macht gerade einmal 0,0003% der chinesischen Bevölkerung aus.  Trotzdem ist Herr Junker dort sehr geschätzt.  Also das ist der Grund weshalb ich an Luxemburg denke sobald es mir um die Kleinheit meiner Gemeinschaft Angst und Bange wird. Ich denke aber auch an Luxemburg, wenn es gilt, pragmatisch zusammenzuarbeiten.  Die Luxemburger sind die Champions der pragmatischen Zusammenarbeit.  Sie schaffen es beispielsweise, eine Reihe ihrer Schüler und Studenten im Ausland und meistens zu Kosten des ausländischen Partners, ausbilden zu lassen.  Ich bin sehr stolz, es geschafft zu haben, dass die Luxemburger da, wo sie ihre Kinder in meiner Heimat ausbilden lassen, auch dafür bezahlen – das war gar nicht so leicht das hinzukriegen.

Wenn die Niederländer und die Luxemburger für den konkreten Fall der Zusammenarbeit nicht in Frage kommen, dann haben wir die unendliche Weite der Bundesrepublik Deutschland vor uns: 82 Millionen Menschen, zwei Bundesländer in unmittelbar angrenzender Nachbarschaft (Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) und einen Steinwurf weiter (auch mit uns in der Großregion Saar-Lor-Lux verbunden) das Saarland, welches ja auch nicht das größte Land in der Bundesrepublik ist.  Da sind die Möglichkeiten natürlich unendlich groß. Im Rahmen der interregionalen Zusammenarbeit, die wir sehr stark nutzen, hat sich die DG und ich selbst darüber hinaus sehr stark darauf konzentriert, mit allen deutschen Bundesländern – und auch den österreichischen – enge Kontakte aufzubauen. Ganz besonders wichtig für die Lösung der Alltagsprobleme ist jedoch die Zusammenarbeit im unmittelbaren Grenzraum, mit den Nachbarn im Kreis Bitburg-Prüm (Rheinland-Pfalz) oder in der StädteRegion Aachen. (Bei dieser völlig neuen Erfindung des nordrhein-westfälischen Verwaltungsrechtes hat man – übrigens nach Baden-Württemberger Modell – eine „Teilfusion“ zwischen einem Landkreis und einer kreisfreien Stadt vollzogen, ohne dass die kreisfreie Stadt das Recht aufgeben muss, einen Oberbürgermeister zu haben). Mit diesem Partner wird es auch einen sehr originellen Ansatz über einen EVTZ geben.  Die StädteRegion Aachen, die Parkstad Limburg (das ist ein Verwaltungsverband auf niederländischer Seite) sowie die DG und ihre Kommunen sind dabei, einen kleineren Raum für eine Kooperation als EVTZ zu konstituieren, wie es mit der Euregio Maas-Rhein insgesamt der Fall ist, die ja schon seit 1976 ihrer Tätigkeit nachgeht und zum Leidwesen der Juristen stets eine niederländische Stiftung ist, deren Sitz sich mittlerweile jedoch in Belgien befindet (übrigens in dem selben Gebäude, wie mein eigener Amtssitz – so habe ich sie ein bisschen im Auge… nicht im Griff aber im Auge). Jedenfalls stellen wir uns die Frage, ob wir an diesem Dreiländereck unsere Kooperationsform noch verdichten können, indem wir ein EVTZ gründen. Dabei ist das, was ich eben über Ihren EVTZ hier gehört habe, von allergrößtem Interesse.  Das verfolgen wir relativ genau über die Beobachtungsfunktionen, die im Ausschuss der Regionen für die EVTZs geschaffen worden sind.  Da werden wir uns sicherlich auch über den heutigen Tag hinaus noch interessant austauschen können. 

Wie geht nun ein Problemlösungsprozess in einem Kleingliedstaat von statten? Wenn sich eine Behörde einem Problem gegenüber sieht, für das sie einen Lösungsansatz ausarbeiten muss, schafft sie im Normalfall ein Instrument – mit all dem Aufwand, der dazu gehört.  Wenn sie das gemacht hat, wird das Instrument eingesetzt und löst im optimalen Fall das Problem.  Dann befindet sie sich in einer Zwickmühle, denn sie verfügt über ein Instrument, das keine Probleme mehr zu lösen hat. Dieses ist jedoch nur in den seltensten Fällen bereit, sich aufzulösen. Es wird meist alle mögliche Energie und Phantasie darauf verwenden, neue Probleme zu entdecken, ja zu schaffen, damit es seine Existenzberechtigung behält.  Das ist der Moment, wo der Nachbar aus dem Kleingliedstaat eine unendliche Hilfe leisten kann. 

Wenn nämlich bei der Suche nach zu lösenden Problemen der Blick über die Grenze geht, kann es durchaus sein, dass man dort eine Situation vorfindet, die man mit bearbeiten könnte. Meist ist man sogar bereit, sein Instrument zu marginalen Preisen zur Verfügung zu stellen. So entstehen wichtige Verbundsysteme. Man kann als Kleingliedstaat natürlich nicht dauernd auf Kosten der Nachbarn leben. Vielmehr sollte man es als kleine Einheit schaffen, sich so zu vernetzen, dass der Aufbau von Instrumenten der Politikgestaltung schon bei der Konzeption grenzüberschreitend geschieht. Man muss sich also schon beim Aufbau eines Instrumentes die Frage stellt, ob das zu lösende Problem vom Nachbarn mit bearbeitet werden könnte und – anders herum – inwiefern das eigene Instrument so konzipiert werden kann, dass es von Anfang auch in den Dienst des Nachbarn treten kann. Auf diese Weise vernetzt man sich auf eine hochmoderne und hochinteressante Art und Weise.  Das ist Politik-Knowhow vom allerfeinsten, das gerade bei Kleingliedstaaten von größter Bedeutung ist – ich würde sogar sagen unverzichtbar. Dies wird besonders spannend, wenn man in einer Grenzregion lebt.

Nachdem ich die DG in Belgien nun erschöpfend dargestellt habe, möchte ich diese Überleitung nun zum Anlass nehmen, mich näher mit dem Thema Grenzregionen zu befassen, die meiner Ansicht nach von großer Bedeutung sind. Das muss ich alleine schon deshalb sagen, weil es sich so positiv auf mein eigenes Selbstempfinden auswirkt.  Wer will schon nicht etwas besonders sein?  Dennoch tätige ich diese Aussage nicht nur meinem eigenen Ego zuliebe. Grenzregionen sind wirklich etwas Besonders.  Lassen Sie mich das an einigen Punkten verdeutlichen.  Das, was die Grenzregionen wohl am meisten auszeichnet, wird schon im Namen deutlich.  Es ist die Grenze.  Es lohnt sich, sich wirklich intensiv, multidisziplinär, künstlerisch, literarisch, juristisch, politikwissenschaftlich, geographisch (und was es sonst noch so alles an Wissenschaften gibt) mit dem Thema Grenze auseinanderzusetzen.  Es ist eines der spannendsten Phänomene, die es überhaupt gibt. 

Warum? Weil Grenzen in vielfältiger Weise identitätsstiftend sind.  Sie können als Mensch nur bestehen, wenn Sie sich bewusst werden, dass Sie etwas sind, was Sie vom Rest der Welt unterscheidet, sonst nehmen Sie kein eigenes Ich wahr.  Das ist tiefenpsychologisch und philosophisch von ganz großer Bedeutung. Ich bin weder Psychologe noch Philosoph, sondern ganz schlichter Jurist. Aus diesem Grund werde ich mich nicht allzu weit auf dieses Terrain begeben. Eines scheint mir jedoch glasklar: Bei der Frage nach der eigenen Identität muss sich jeder Mensch zuerst die Frage beantworten: „Was macht mich besonders und was unterscheidet mich von anderen, was grenzt mich ab?“  Das gilt schon für die persönliche Individualität.  Derjenige, der das nicht hinbekommt, der hat richtige Probleme!  Meistens landet er in der Klapsmühle oder in einer sehr teuren tiefenpsychologischen Behandlung. 

Ganz besonders spannend wird das natürlich, wenn Sie es wagen, beim Konzept der Identität die individuelle Identität zu verlassen und sich auf die Ebene der kollektiven Identität zu begeben. Das ist ein sehr schwieriges Thema, bei dem man sich zunächst die Frage stellen kann: „Gibt es sie überhaupt?“ – Ist das nicht so ähnlich wie die Frage: „Wie bekämpft man das Ungeheuer von Loch Ness?“  Am Besten stellt man sich zuerst die Frage: „Gibt es das Ungeheuer von Loch Ness eigentlich?“ Was die kollektive Identität angeht so kann man diese Grundfrage jedenfalls bejahen – so schwierig und vielschichtig dieser Begriff auch sein mag.  Es gibt sie, was sich durch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen äußert.  Da kommt die Grenze schon wieder voll zum Tragen, denn Sie werden ein Zusammengehörigkeitsgefühl nur wahrnehmen und definieren können, wenn sie es abgrenzen. Per Definition ist kollektive Identität also das, was ich mit anderen Menschen gemeinsam habe und was mich vom Rest der Welt unterscheidet.  Da sind Grenzen natürlich das ganz entscheidende Phänomen. Noch entscheidender ist aber, wie ich mit der Grenze umgehe. Das ist auch sehr ambivalent und sehr ‚dynamitgeladen’. Denn mit den Themen ‚Grenze’ und ‚Abgrenzung’ kann ich alles machen: das Beste in der Welt und auch das Schlimmste.  Deshalb ist es wichtig, dass eine Grenze etwas ist, das ich als Stärkung meiner Person oder meiner Region empfinde, das ich aber auch immer als etwas betrachte, was ich überschreiten will, um mich anderen zu öffnen und mit ihnen in Austausch zu treten.  Dahinter steckt die These, dass eine Region nur erfolgreich sein kann, wenn es ihr gelingt, eine starke Identität zu entwickeln und diese zu nutzen – nicht etwa, um sich einzuigeln, sondern, um möglichst offen mit sehr vielen Partnern vernetzt zusammenzuarbeiten. 

In Grenzregionen können Sie das alles tagtäglich konkret erleben. Deshalb lohnt es sich, sich gründlich mit Grenzregionen auseinanderzusetzen.  Aus diesem Grund bin ich sehr froh, dass ich die Gelegenheit habe, mich als Ständiger Berichterstatter für grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates intensiv mit diesem Thema zu befassen (Sie sehen schon, man muss tief Luft holen, um diesen Titel in einem Satz aussprechen zu können. Ganz toll ist es, wenn Sie auf einem Kongress sitzen und Sie bekommen dann das Namensschild dorthin gestellt. Das Schönste der Gefühle ist natürlich, wenn Sie sich dann in einem der Mitgliedsstaaten des Europarates befinden, wo kyrillisch geschrieben wird. Das sind wahre Kunstwerke, die Sie dann mit nach Hause nehmen können, um Ihrer Frau wirklich zu beweisen, dass Sie auf einem Kongress waren und nicht irgendwo anders!). Im Rahmen dieser Funktion hatte ich im vergangen Herbst die Gelegenheit, mit vielen Anderen gemeinsam einen zweiten Sachstandsbericht für den Kongress zu verfassen.  Der erste stammt übrigens aus der Feder eines ehemaligen Regierungsrates des Kantons Basel in der Schweiz, Herr Tschudi, der hier vielleicht auch durchaus bekannt sein könnte.

 Wir haben jetzt im Oktober 2009 noch einmal die Dinge auf den Punkt gebracht.  Dabei stellt man fest, dass es eine ganze Menge Grenzregionen gibt.  Am besten kann man das auf einer Karte verdeutlichen.  Auf dieser Karte hier steht jeder kleine Kreis für irgendeine europäisch strukturierte grenzüberschreitende Zusammenarbeit.  Diese Grenzregionen sind natürlich sehr vielfältig.  Es ist ganz wichtig, in diese Vielfalt etwas Systematik hineinzubringen.  Man kann diese Grenzregionen nach der Qualität der Arbeit einordnen, die sie leisten, geleistet haben oder leisten wollen.  Das ist ein qualitativer Einstieg, der in hervorragender Weise in einem Buch enthalten ist, das vor nicht allzu langer Zeit (vor 2 Jahren) der ehemalige Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft europäischer Grenzregionen (AGEG) veröffentlicht hat und in dem sehr interessante Ansätze enthalten sind.  Ich habe in dem Bericht, den ich in Straßburg vorgestellt habe, dieser qualitativen Einordnung auch noch eine andere hinzugefügt, die für die Analyse sehr relevant ist. Und zwar eine Einteilung der Grenzregionen nach verschiedenen Kriterien, die nichts mit qualitativen Aspekten zu tun haben. 

So gibt es große, kleine und mittlere Grenzregionen.  Das ist schon eine ganz einfache Einteilung, die aber sehr relevant ist.  So ist es etwas fundamental anderes, ob wir hier über die Oberrheinzusammenarbeit sprechen oder über den Eurodistrikt Straßburg/Ortenau.  Das sind zwei Dinge, die sehr eng zusammen gehören, jedoch völlig verschieden sind.  Dasselbe gilt für die Euregio Maas-Rhein und die Großregion Saar-Lor-Lux sowie für viele andere Dinge.  In Europa diskutiert man zum augenblicklichen Zeitpunkt sehr viel über diese famosen „Makroregionen“. Dazu muss man sich auch noch eine ganze Reihe weiterer Fragen stellen.  So sollte man aufpassen (das habe ich aber auch dem Herrn EU-Kommissar Hahn noch vor einigen Tagen am Rande einer AdR-Sitzung sagen können) dass jetzt nicht die ganze EU-Förderung auf Makroregionen fokussiert wird. Schließlich gibt es auch noch die schlichte ‚normale’ grenzüberschreitende Zusammenarbeit, so wie wir sie alle aus der praktischen Erfahrung kennen.

Neben dieser Unterscheidung nach der Größe der Grenzregion ist es wichtig zu schauen, ob ich es mit einer einfachen oder einer komplizierten Konstellation zu tun habe.  So kann ich mich irgendwo an einer Grenze mit zwei Staaten befinden, die ähnlich strukturiert sind, die dieselbe Sprache sprechen und dann grenzüberschreitende Kooperation betreiben.  Das ist auch sehr wichtig, aber doch relativ einfach einzufädeln.  Ganz kompliziert wird es, wenn ich irgendwo bin, wo mehrere Sprachen (zwei oder sogar drei, wie es in der Euregio Maas-Rhein der Fall ist) gesprochen werden und wo die Mentalitäten sehr verschieden sind.  Es ist etwas fundamental anderes, ob ein Franzose oder ein Deutscher sagt: „Wir machen das mal…“ – das wissen Sie  wahrscheinlich alle.  Es ist auch sehr wichtig zu wissen, ob die Verwaltungsstrukturen einer gemeinsamen Tradition entspringen oder sehr unterschiedlich aufgebaut sind. Je komplexer die Dinge werden, je unterschiedlicher sie sind, desto schwieriger und natürlich auch spannender ist die Zusammenarbeit.

Hinzu kommt eine Unterscheidung nach der Art der Grenze. Es gibt Grenzen, die deshalb bedeutungsvoll sind, weil sie so schwer zu überwinden sind – aufgrund topographischer oder sonstiger geographischer Aspekte.  Wenn wir die Zusammenarbeit rund um das Schwarze Meer nehmen, müssen wir uns natürlich mit dem Schwarzen Meer beschäftigen. Andere Beispiele sind die Adria, das Baltikum oder der Bodensee.  Die Alpen haben auch so etwas schwer Überwindbares an sich.  Auch ein Fluss kann eine sehr bedeutende Rolle spielen. Das sind die nicht immer einfach zu überwindenden aber einfach wahrnehmbaren Grenzen. 

Daneben gibt es die politischen Grenzen, an denen Europa besonderes reich ist.  Die sind keineswegs immer sehr einfach.  Es gibt politische Grenzen, die seit eh und je unumstritten waren.  Aber auf der anderen Seite gibt es auch jene, die sich im Laufe der Geschichte – manchmal auch nach kriegerischen Auseinandersetzungen – geändert haben. Das ist etwas, das auch in meiner Heimat von sehr großer Bedeutung ist.  Mit dem Versailler Vertrag (1920) kommt meine Region von Deutschland nach Belgien. Es folgt eine schwierige Zwischenkriegszeit, die ganz im Zeichen der Integration der Neuankömmlinge in Belgien steht und schließlich die Zeit der Nationalsozialisten und die Annektion dieses Gebiet durch die Deutschen. Während des Zweiten Weltkriegs war unsere Heimat demnach nicht besetzt, wie der Rest Belgiens, sondern voll und ganz an das Deutsche Reich angegliedert. Die Menschen waren also wieder Deutsche. Diese Annektion wird nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich sofort wieder rückgängig gemacht. Im Zuge der folgenden ‚Säuberungsaktionen’ wird jedoch kein Unterschied gemacht zwischen dem ehemals annektierten und dem besetzten Gebiet Belgiens, was schwerwiegende Folgen für jene Menschen im Osten Belgiens hatte, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten.  All das hat etwa dazu geführt, dass mein Großvater, ein bodenständiger Landwirt, in seinem Leben vier mal die Staatsangehörigkeit geändert hat und dann auch noch zwei Weltkriege miterleben musste – übrigens einen davon als Soldat.  Das sind schon sehr bewegende Geschichten. Die können aber manchmal noch heftiger werden. 

Da lohnt es sich, auf das heutige Datum zu schauen: der 6. Mai.  Das ist der Tag, an dem Breslau 1945 kapituliert hat (vor 65 Jahren).  Das ist auch das Datum, mit dem die Zugehörigkeit Breslaus zu Deutschland definitiv vorbei war.  Breslau ist heute wie sie wissen das polnische Wrocław. Dort in Schlesien fing die schwierige Zeit für die Menschen mit dem Ende des Krieges erst richtig an.  Man hat die Schlesier zum Teil vertrieben und da, wo sie früher lebten, Menschen aus dem Osten Polens und der Tschechoslowakei angesiedelt (der Osten Polens war von Stalin wiederum zum ukrainischen Staatsgebiet erklärt worden).  Sie können sich vorstellen, was das an Problemen mit sich bringt.  Deshalb ist es schon besonders spannend, sich solche Grenzregionen einmal genauer anzuschauen.  Es war durchaus sehr symbolträchtig, als in Wrocław 2009 die vom Ausschuss der Regionen organisierte Veranstaltung eines europäischen Treffens der Regionen stattfand und womit natürlich auch ein Stück Geschichte aufgearbeitet wurde.  

Die Komplexität der Grenzlage kann sehr viel mit Geschichte und mit Veränderungen von Grenzen zu tun haben. Das ist manchmal alles andere als einfach und unproblematisch.  All das macht deutlich, dass Grenzregionen und die Grenzen, die sie überwinden müssen, sehr oft Wunden der Geschichte sind. Zudem sind sie aber auch die Nahtstellen Europas oder müssen verstärkt zu solchen werden, wenn wir den Zusammenhalt Europas richtig organisieren wollen.  Sie kennen dieses Bild aus vielen Bereichen – beim Schweißen ebenso wie beim Nähen oder Basteln: ein zusammengesetztes Stück ist immer nur so stark wie die Nähte oder die Verbindungen, die es zusammen halten.  Die Grenzregionen sind diese Nähte. Deshalb spielen sie eine ganz entscheidende Rolle für Europa. 

Die Eigenheiten der Grenzregionen gehen häufig jedoch weit über diesen Aspekt hinaus. Sie befinden sich sehr oft in einer Randlage im Vergleich zur nationalen Hauptstadt. Dies führt dazu, dass die dort lebenden Menschen ohne die grenzüberschreitende Kooperation zwar sehr nah zusammen aber zueinander Rücken an Rücken stehen – mit dem Blick auf ihre jeweilige Hauptstadt gerichtet.  Sobald man in diesen Regionen anfängt zusammenzuarbeiten, findet ein Paradigmenwechsel statt. Man steht sich plötzlich Angesicht zu Angesicht gegenüber, was eine ganz andere Wirkung und auch ganz andere Konsequenzen für das Selbstverständnis dieser Menschen hat.  Wenn dieses Umdenken an vielen Stellen geschieht, hat das für Europa etwas ganz Mobilisierendes.  Deshalb ist es durchaus nicht falsch zu sagen, dass Grenzregionen gleichermaßen als Laboratorium und als Motor der europäischen Integration dienen können. 

Damit komme ich zum letzten Teil meiner Rede: „auf dem Wege nach Europa“ – dieser Teil wird zeitlich aber der Kürzeste sein.  Hier muss man zunächst darauf hinweisen, dass Europa ein vielfältiger Begriff ist, deshalb ist es ganz wichtig, genau zu wissen, was man mit Europa meint – Meint man das Europa der Europäischen Union oder das des Europarates?  Beide spielen eine ganz wichtige kontinentale Rolle, aber man muss natürlich genau unterscheiden können, wer was als Aufgabe hat und wie wer zuständig sein kann. Dieses Europa ist eine Tatsache.  Es ist aber auch ein Ziel. Deshalb ist es durchaus nicht falsch, davon zu reden „auf dem Wege nach Europa“ zu sein.  Wir sind natürlich schon alle in Europa angekommen.  Aber wir müssen gleichzeitig noch ein ganz großes Stück weiter auf Europa zu gehen.  Man braucht sich bloß die Ergebnisse der letzten Europawahl anzuschauen und die gewaltig angestiegene Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament, die zu den Europa-Skeptikern gehören.  Man kann sich auch die aktuelle Diskussion rund um Griechenland anschauen, über die Sie eben auch gesprochen haben. Auch das zeigt, dass in Europa noch Vieles zu tun bleibt.  Man kann generell feststellen, dass Europabegeisterung zum jetzigen Zeitpunkt nicht das Gefühl ist, das alle Menschen auf diesem Kontinent wirklich bewegt.  Da muss noch eine ganze Menge geschehen.  Hierzu gehört natürlich auch immer wieder der Hinweis auf die Geschichte.  Es gibt zu Europa keine wirklich brauchbare Alternative.  Europa ist zweifellos die Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dieser europäische Einigungsprozess kombiniert mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ist etwas, das durchaus der Bedeutung einer Jahrtausendwende entspricht und als solches in die Weltgeschichte eingehen wird.  Aber es ist halt nicht genug, davon zu reden, dass wir schon 65 Jahre keinen Krieg mehr haben in Westeuropa. Man braucht nicht weit weg zu fliegen, und schon sieht die Welt ganz anders aus. Auch das haben wir in den letzten Monaten immer wieder schmerzhaft erlebt und auch da stellt sich die Frage, welche Rolle denn Europa in diesen Dingen spielt.  Die weitere Entwicklung wird uns sicherlich dazu führen, dass wir noch eine ganze Menge mehr machen müssen, als uns regelmäßig daran zu erinnern, wie toll es uns geht, seitdem es keine europäischen Kriege mehr gibt. 

Auch der Euro ist eine Erfolgsstory… auch wenn er jetzt etwas unter Druck steht.  Übrigens erinnern mich die heutigen Überlegungen stark an die Zeit der Schaffung des Euro.  Damals war der einzig wichtige Punkt, wie der Euro zum Dollar steht. Dieselbe Frage hört man jetzt wieder in jeder Tagesschau.  Fragen Sie mal einen Amerikaner was ein Dollar wert ist.  Der wird Ihnen Clip und klar sagen: „Ein Dollar ist ein Dollar!“ Schauen Sie mal wie die Amerikaner mit der Parität umgehen, wenn sie Probleme haben und ihre Exporte steigern oder Importe einengen wollen.  Das ist ein völlig anderer Umgang als die bange Frage, ob jetzt mit einer Variation des Wechselkurses unser gesamtes europäisches Einigungswerk zusammenbrechen wird. Das heißt wiederum nicht, dass man keine strenge Politik in dem Bereich führen sollte. Man ist lediglich gut beraten, sich nicht allzu sehr beeinflussen lassen.  Es ist für die jetzige Situation natürlich von ganz entscheidender Bedeutung, dass es gelingt, aus dieser Krise herauszukommen, die europäische Integration als solche zu stärken und auch zu zeigen, dass man in der Lage ist, Fehlentwicklungen entgegen zu wirken und Solidarität zu zeigen. Daran wird sich Europa jetzt messen lassen müssen.  Das ist keine einfache Geschichte, aber sie ist absolut notwendig.  Wenn Europa das nicht schafft, dann verdient es auch nicht mehr! Das muss man auch mal sehr deutlich sagen, denn es gibt nichts im Leben zum Nulltarif.

Europa hat noch große Ziele vor Augen und gleichzeitig einen weiten Weg vor sich. Deshalb ist die Frage, ob wir mit den Grenzregionen einen Beitrag zur Orientierung und zur Beschleunigung dieses Weges leisten können, durchaus sehr berechtigt.  Europa ist auf der weltpolitischen Ebene immer noch in vielen Bereichen ein Zwerg.  Europa hat ein Gesellschaftsmodell zu verteidigen, das sich sehr stark unterscheidet von all dem, was wir anderswo kennen.  Man braucht sich da nur einmal im Detail die dramatische Diskussion um diese Gesundheitsreform in den Vereinigten Staaten anzuschauen, und vergleicht das mit all dem, was für uns in Europa so selbstverständlich ist.  Dann versteht man vielleicht ein bisschen, dass das europäische Modell der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialstaatlichkeit schon etwas ist, das nicht von alleine kommt und nicht ‚einfach so da ist’.  Da müssen wir, wenn wir den Herausforderungen des demographischen Wandels wirklich gerecht werden wollen, europaweit eine ganze Menge gemeinsam anpacken.  

Wir müssen in Europa vor allem dafür sorgen, dass das hier vorherrschende Mehrebenensystem richtig kohärent funktioniert – man bezeichnet dieses Konzept häufig mit dem englischen Begriff ‚Multi-Level-Governance’.  Dieses System spielt für Europa eine sehr wichtige Rolle.  Daher muss es geprägt sein von einer systematisch kohärenten Anwendung des Subsidaritätsprinzip.  Ich hatte vor einigen Tagen die Gelegenheit (übrigens gemeinsam mit Ihrem ehemaligen Ministerpräsidenten, Herrn Erwin Teufel) an einer sehr interessanten Tagung in St. Gallen teilzunehmen, die von der Schweizer Eidgenossenschaft im Rahmen ihres turnusmäßigen Vorsitzes beim Europarat organisiert wurde und den Titel „Demokratie und Dezentralisierung“ trug.  Ein hoch spannendes Thema… da geht es im Kern darum, wie wir in Europa die verschiedenen Ebenen der Politikgestaltung aufeinander abstimmen – von der Kommune und all dem, was noch auf dieser Ebene hinzukommt, über den Kreis und sonstige Verbunde, zur Landesebene (der regionalen Ebene in Europa), bis hin zur staatlichen und zur europäischen Ebene.  Da ist eine konsequente Anwendung des Subsidaritätsprinzip von ganz großer Bedeutung.  Das heißt aber auch, dass Europa selbst vieles von dem, was es jetzt macht, in Zukunft besser nicht mehr machen sollte – auf der anderen Seite aber eine ganze Menge von dem, was momentan nicht geschieht, endlich mal anpacken muss!  Das ist die Herausforderung vor der wir stehen.  Dasselbe gilt auch für jede andere Ebene, ganz speziell für die der Regionen.

Kann aus den Regionen ein neuer Schub für Europa kommen?  Diese Frage möchte ich mit einem ganz eindeutigen Ja beantworten, auch wenn ich nicht zu denen gehöre, die so eine verklärte Vorstellung der Tugenden des Europas der Regionen haben.  Dieser Begriff taugt eigentlich gar nicht sehr viel… wichtiger ist es, sich darüber im Klaren zu sein, oder zu werden, dass die regionale Ebene in Europa eine starke, bestimmte, aber auch eine begrenzte Rolle zu spielen hat und die sich dann kohärent in das gesamte Mehrebenensystem einfügen muss.  Auf jeden Fall kann man eines feststellen (da sind auch die französischen Nachbarn ein besonders interessantes Beispiel – dazu hat gerade der leider viel zu früh verstorbene Präsident des Regionalrates Elsass, Herr Zeller, eine ganze Menge beigetragen).  Wenn Sie sich Europa aus der Vogelperspektive anschauen, dann werden Sie feststellen, dass in den letzten 20 Jahren die regionale Ebene (so unterschiedlich und vielfältig sie auch sein mag – von den zentralisiertesten Staaten bis hin zu jenen mit der größten bundesstaatlichen Autonomie) aufgebaut und gestärkt wurde und stets an Bedeutung zugenommen hat.  Das ist eine klare langfristige Tendenz, mit sehr vielen Nuancen und Details – das macht das Ganze sehr spannend. Aber das ist der Mainstream, um noch einmal ins Englische abzuweichen.  Das ist von großer Bedeutung und dafür gibt es auch einen Grund.  

Der Grund ist eine auf den ersten Blick vielleicht als widersprüchlich wahrgenommene Entwicklung.  Ich behaupte immer, die Regionen sind deshalb erstarkt, weil es die Globalisierung gibt.  Man könnte auch das Gegenteil vermuten und sagen: Weshalb brauchen wir noch Regionen, wenn sowieso alles weltweit läuft und alles vernetzt ist? Gerade in einer globalisierten und weltweit vernetzten Welt ist es jedoch wichtiger denn je, dass es eine starke regionale Verankerung gibt.  Wenn Sie das Erfolgsgeheimnis von Regionen – nämlich eine starke Identität, die aber offen ist nach außen – richtig einsetzen, löst sich dieser scheinbare Widerspruch auf und wird zu einer der beiden Seiten derselben Wirklichkeit.  Je stärker die Globalisierung reift, desto bedeutender ist die regionale Verankerung, desto mehr lässt sich auch auf regionaler Ebene interessante Politikgestaltung betreiben.  Ich behaupte sogar, dass für den neuen Schub, den Europa so dringend braucht, gerade diese regionale Ebene einen sehr relevanten Beitrag leisten kann.  Sie kann nämlich der europäischen Ebene klar machen, was funktioniert und was nicht funktioniert.  Sie kann dieses Prinzip der Vernetzung umsetzen;  sie kann bei Krisen und Erfolgen Zeugnis davon ablegen, was wirklich vor Ort geschieht.  All das muss zusammengebracht und zu einer wirklich bedeutenden Entwicklung hin zu mehr Europa vorangetrieben werden. Von ganz besonderem und großem Interesse ist die Situation der Grenzregionen.

Die europäischen Grenzregionen folgen in gewisser Hinsicht dem Mainstream, weil auch sie an Bedeutung zugenommen haben. Das Thema Grenzregionen hat aber auch immer etwas Problematisches an sich – denn Regionen stellt man sich ja immer innerhalb von Staaten vor (da gehören sie auch hin). Grenzregionen hingegen stellen diese staatliche Begrenztheit ein bisschen in Frage.  Deshalb ist es immer besonders spannend, sich anzuschauen, wie diese Regionen arbeiten. Dort, wo das funktioniert, werden folglich die staatlichen Grenzen überwunden und eine neue Form des Denkens und des Zusammenarbeitens entsteht. Dies wiederum ist – wenn man es überall, wo es Grenzregionen gibt, zusammen addiert – ein starkes Element europäischer Integration. Deshalb lohnt es sich wirklich, grenzüberschreitende Zusammenarbeit kohärent voran zu treiben.  Das ist kein einfaches Unterfangen, denn diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit kennt Erfolge, aber auch durchaus immer wieder Leerlauf und scheinbaren Stimmstand.  

Als Lösungsansatz hierfür hat man in der Vergangenheit einige semantische Veränderungen vorgenommen – sicherlich eine interessante Vorgehensweise, bei der man sich aber nicht allzu vielen Illusionen hingeben sollte:  Es gibt die Zusammenarbeit in Euregionen, dann kam der Begriff des Eurodistriktes auf und neuerdings (das war der Gegenstand einer Rede, die ich mal auf der Oberrheinkonferenz halten durfte) war plötzlich alles nur noch mit grenzüberschreitenden „polyzentrischen Metropolregionen“ möglich. Man kann also wie auf einer Surfveranstaltung von Begriff zu Begriff reiten aber man sollte dabei nicht der Illusion verfallen, dass man die Probleme dadurch löst.  Das ist natürlich ein Irrtum, der irgendwann zu einer fürchterlichen Bruchlandung führt – meist mit ziemlich blutigen Nasen.  Natürlich steckt hinter den Begriffen ‚Euregio’, ‚Eurodistrikt’ und ‚grenzüberschreitende polyzentrische Metropolregion’ durchaus sehr viel Wahrheit. Dahinter steckt jedoch die schlichte Wirklichkeit der grenzüberschreitenden Kooperation, die wiederum sehr stark davon abhängt, in welcher Art von Grenzregion ich mich befinde: Bin ich an einer alten Binnengrenze der EU, so wie es hier der Fall ist, so wie es auch in meiner Heimat der Fall ist; bin ich an einer neuen Binnengrenze; bin ich an einer EU-Außengrenze oder bin ich sogar – im Rahmen des Europarates – an einer Grenze, die überhaupt keinen direkten geographischen Bezug zur Europäischen Union hat, so wie das etwa an der weißrussisch-russisch-ukrainischen Grenze der Fall ist, wo ganz wichtige Sachen passieren.  All diese Aspekte müssen aufgearbeitet werden, dann lassen sich ganz tolle Dinge gestalten. Für den Erfolg der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (ich bin überzeugt, das entspricht auch ihrer erfahrenen Wirklichkeit hier) gibt es darüber hinaus drei Voraussetzungen:  man muss es erstens „dürfen“, zweitens (wirklich) „wollen“ und drittens „können“.  Das sind die leicht verständlichen und auch leicht übersetzbaren Begriffe, die man da einsetzen kann. 

„Dürfen“ – das ist gar nicht so evident, was deutlich wird, wenn wir uns mal in der Welt umschauen.  Es gibt auch heute noch viele Stellen – ich kenne deren eine ganze Reihe – wo alles, was so an der Grenze geschieht, aus der Hauptstadt mit einem gewissen Argwohn verfolgt wird.  Dort stellt man sich dann Fragen wie „Was geschieht da eigentlich?“; „Entgleitet dort nicht irgendetwas meiner Kontrolle?“;  „Wird man mir da etwa Probleme schaffen?“; usw. Also dieses „Dürfen“ ist durchaus noch ein Thema, auch wenn es in Europa (sowohl im Rahmen des Europarates als auch der Europäischen Union) natürlich in keinster Weise mehr die Brisanz hat, die es noch vor 20 oder 30 Jahren hatte.  Aber immerhin ist das auch heute noch etwas sehr Wichtiges. Unterhalten Sie sich mal im Quai d’Orsay in Paris detailliert über grenzüberschreitende Zusammenarbeit (ich war vor ein paar Wochen noch da). Sie werden merken, dass es da noch einiges zu klären gibt.

„Wollen“ – Wollen ist gleichzeitig etwas Schönes und sehr Gefährliches.  Ich kenne Friedhöfe von Politikern – Entschuldigung, Friedhöfe, auf denen viele Politiker politisch begraben sind – die deshalb nicht mehr wiedergewählt wurden, weil sie sich zu blauäugig und zu weit weg entfernt von ihren Wählern und deren Empfinden in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit engagiert haben.  Für Sonntagsreden ist das immer ganz toll.  Man kann wunderbare Reden zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit halten (ich mache das jetzt übrigens schon 56 Minuten lang und es wird höchste Zeit, dass ich aufhöre…) Wenn es aber ans Eingemachte geht, wenn wir wirklich eine grenzüberschreitende Buchungszentrale für den Tourismus einrichten oder eine gemeinsame Standortwerbung ausarbeiten und dann entscheiden müssen, wo denn der Betrieb hinkommt, den wir angeworben haben, dann wird das mit dem „Wollen“ manchmal schon bedeutend schwieriger.  Da muss man natürlich sehr viel Durchhaltevermögen haben, aber man darf auch nie vergessen auf diesem Weg zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Menschen der Region mitzunehmen.  Das setzt ständige Überzeugungsarbeit voraus.

Dann kommt natürlich das ganz Entscheidende: Dürfen und Wollen ist eine Voraussetzung, aber es genügt noch nicht, man muss auch noch können! Das ist manchmal verdammt schwierig.  Das fängt schon mit der Sprache des Nachbarn an.  Wie viele Deutsche in Frankfurt an der Oder können wirklich polnisch?  Ich weiß, dass hier jeder Französisch spricht… aber das ist eine andere Sache!  Aber Sie werden eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit wirklich nur vertiefen können, wenn Sie nicht auf das Hilfsmittel des mehr oder weniger gut beherrschten Englisch zurückgreifen müssen.  Sie können einen Menschen nur begreifen, wenn Sie ihn auch wirklich verstehen, in dem Sie mit ihm in tiefen Kontakt treten und seine Sprache, Kultur und Mentalität kennenlernen. 

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist daher etwas, was ein hohes Maß an interkultureller Kommunikationskompetenz voraussetzt (ein schönes Wort).  Ich habe hierzu einmal eine Definition in einer Betriebszeitung des europäischen Konzerns EADS gelesen und auswendig gelernt. Ich zitiere sie immer wieder. Für diejenigen, die mich schon einmal gehört haben, möchte ich mich für diese Wiederholung vorab entschuldigen. Meistens setze ich dieses Zitat auch als Test dafür ein, wie gut die Dolmetscher sind.  In dieser Broschüre habe ich folgenden sehr wahren Satz gefunden: „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist bedeutend mehr als ein Fremdsprachenkurs oder eine Fettnäpfchenlehre für Fortgeschrittene.“ Interkulturelle Kommunikationskompetenz setzt also ein sehr breites Wissen voraus, aber ein Wissen mit sehr hohem inhaltlichem Mehrwert und auch mit wirtschaftlich nutzbarer Bedeutung.  Dieses Zusammenarbeiten setzt voraus, dass Sie die Situation, die Lage, die Denkweise des Nachbarn fast genau so gut kennen wie er selbst.  Dann können Sie wirklich zusammenarbeiten.  Das ist mit einer großen Anstrengung verbunden, denn diese Kompetenz kommt nicht von alleine.  Sie ist nicht angeboren und folglich kann man sie erlernen.  Es ist eine Frage des Einsatzes und der Anstrengung. Man kann es auch ganz schlicht und einfach auf die Formel bringen: „Ohne Fleiß kein Preis!“

Wir sind also, meine sehr geehrten Damen und Herren, in den Grenzregionen insgesamt und folglich auch in meiner Heimat, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, in der Euregio Maas-Rhein, in der Großregion Saar-Lor-Lux, „auf dem Wege nach Europa“.  Manchmal hat man den Eindruck, dass man im Kreis läuft und dass man immer wieder neu anfangen muss.  Man kann das dann überspielen, man kann aber auch sagen: „der Weg ist das Ziel“. Auf jeden Fall ist eines immer klar: Es lohnt sich, sich in diesen ständigen Prozess einzubringen!

Da Sie schon, lieber Herr Philipp, verraten haben, dass ich selbst Sozialdemokrat bin, also bei keiner CDU-Veranstaltung als Wahlhelfer in Verdacht stehe – auch nicht, wenn ich in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Herrn Rüttgers auftrete – möchte ich am Ende gerade zu diesem Thema ein Zitat von Willy Brandt bringen.  Er hat einmal gegen Ende seines Lebens gesagt – das gilt sicherlich auch für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit: „Nichts kommt von alleine und wenig ist von Dauer“.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!