Reden

Rede: “Kennen Sie Belgien?” Im Rahmen der Veranstaltung „Wallonie – Endecken Sie die 10 guten Gründe, in der Wallonie zu investieren“


Rede: “Kennen Sie Belgien?” Im Rahmen der Veranstaltung „Wallonie – Endecken Sie die 10 guten Gründe, in der Wallonie zu investieren
(Organisiert durch die “Wallonia Export and Investment Agency)

26/04/2010

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich soll Sie im Rahmen meiner heutigen Rede also fragen: „Kennen Sie Belgien?“. Nun, bisher hat mir noch niemand die Frage gestellt: „Wie spricht man eigentlich Belgisch?“.  Ich bin jedoch davon überzeugt, dass dem ein oder anderen unter ihnen neben dieser Frage auch die folgende unter den Fingernägeln brennt: „Gibt es Belgien überhaupt noch?“

Um hierauf zu antworten: Sie hören gerade Belgisch.  Sie werden vielleicht ein bisschen überrascht sein, dass Sie das so gut verstehen… das kommt daher, dass auch Deutsch eine der belgischen Amtssprachen ist, obgleich diese nur von 0,7 % der belgischen Bevölkerung gesprochen wird –  wenn Sie es genau wissen wollen, von 75.496 Menschen am 1. Januar 2010 (es werden wahrscheinlich ein paar mehr sein zum heutigen Datum).  Diese Belgier, die im Osten des Landes leben, kann man zu Recht als die „letzten Belgier“ bezeichnen.  Warum?  Weil sie erst vor genau 90 Jahren und zwar mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags 1920 zu Belgien hinzugestoßen sind.

Wenn Sie über Belgien etwas erfahren wollen, werden Sie sich wahrscheinlich eher für die Belgierinnen und Belgier interessieren, die das „Belgisch“ reden, das Sie vielleicht weniger gut verstehen. Die meisten meiner Landsleute reden nämlich Niederländisch.  Das sind rund 6 Millionen (immer noch knapp die Hälfte der Einwohner von Bayern).  Daneben gibt es die Belgierinnen und Belgier, die Französisch reden.  Das sind etwa 4 Millionen, welche in der Wallonie und Brüssel leben. 

Belgien ist ein Vielvölkerstaat.  Diesen Begriff haben Sie bestimmt schon mal irgendwo gehört.  Die einzigen, die sich mit diesem Begriff manchmal etwas schwer tun, sind die Belgier selbst.  Ein Vielvölkerstaat, das erinnert an Konflikte, Streitigkeiten,  Auseinandersetzungen – all das, was wir in Belgien überhaupt nicht kennen!  Sie wissen ja, dass jeder Flame sich morgens, sobald er sich die Zähne geputzt hat, zuerst die Frage stellt: Welchen Wallonen kann ich denn heute auf die Wange oder sogar auf den Mund küssen?  Es ist auch umgekehrt wahrscheinlich so.  Nein!  Sie merken, ich scherze ein bisschen.  Viele von Ihnen haben wahrscheinlich am Wochenende auch die Frankfurter Allgemeine gelesen. 

Auf der ersten Seite wird Belgien gleich der zweite Artikel gewidmet.  Der erste ist Gott sei Dank nicht derjenige über Belgien, denn dieser trägt den Titel: „Der Alptraum“.  Sie können sich vielleicht denken, dass sich diese Schlagzeile auf die Finanzkrise in Griechenland bezieht.  Der zweite Artikel, der übrigens von dem hervorragenden Belgien-Kenner und langjährig dort ansässigen Journalisten Michael Stabenow geschrieben wurde, trägt den Titel „Belgische Grenzen“.  In diesem Artikel finden Sie eine hervorragende Zusammenfassung dessen, womit sich zurzeit die belgische Politik beschäftigt. 

Ich habe gerade vor wenigen Minuten noch in Brüssel angerufen, um sicher zu sein, dass ich hier nichts Falsches erzähle.  Der König hat den Rücktritt der belgischen Regierung immer noch nicht angenommen. Diesen hatte der Premierminister eingereicht, nachdem es erneut zu einem Sprachenkonflikt in Belgien gekommen ist.  Das sieht aus der Perspektive des Auslandes – sicherlich auch aus der Perspektive des einige hundert Kilometer entfernten Münchens – alles etwas undurchsichtig, schwierig und kaum nachvollziehbar aus.  Wenn Sie mir versprechen, es nicht weiter zu sagen, verrate ich Ihnen gerne: Es ist auch kaum nachvollziehbar! 

Aber es ist auch nicht so dramatisch, wie es wohl scheinen könnte.  Belgien ist noch nicht kurz vor dem Zusammenbruch. Das wohl verlässlichste Indiz dafür dürfte für Sie meine Anwesenheit hier sein. Wenn die Lage so ernst wäre, würde ich mich jetzt sicherlich in Brüssel befinden.  Nichtsdestotrotz: Belgien hat erneut eine schwierige Phase zu durchstehen, was auf die besondere Struktur dieses interessanten Staates zurückzuführen ist. Belgien ist nämlich einer der wenigen Vielvölkerstaaten in Europa (vielleicht sogar der einzige), der seine Spannungen auf eine solch einzigartige Art und Weise gelöst hat – eine Vorgehensweise, von der sicherlich auch einige Signale für die weitere europäische Entwicklung ausgehen können. Belgien hat die Spannungen zwischen den großen Sprachgruppen gelöst oder zu lösen versucht (oder sagen wir besser, ist seit etwa 30 Jahren dabei, sie zu lösen), indem man einen ehemals dezentralisierten Einheitsstaat in einen Bundesstaat umgewandelt hat.  Das ist für eine solche Problematik im Übrigen durchaus keine übertrieben lange Zeit.

Das Wort Bundesstaat muss sicherlich angenehm vertraut in Ihren Ohren klingen, denn schließlich ist auch die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat – übrigens neben Österreich und der Schweiz einer der wenigen wirklich organisierten in Europa.  Alle anderen befinden sich auf dem Weg hin zu mehr regionaler Autonomie (in Spanien, Italien, ja sogar in Frankreich werden die Regionen immer stärker).  Belgien darf sich durchaus – nicht nur von Verfassungswegen, sondern auch aus der Realität heraus – als einen Bundesstaat bezeichnen.  Das macht mir meine Aufgabe sehr einfach, denn wenn man Belgien verstehen will, sollte man wissen, dass in Belgien eigentlich alles so ist, wie in Deutschland… abgesehen von dem, was anders ist.

Belgien ist eigentlich sogar viel einfacher und unkomplizierter als Deutschland.  Jetzt werden Sie sich vielleicht die Frage stellen, ob ich gestern einen über den Durst getrunken habe. Aber nein! Das stimmt wirklich!  In Belgien gibt es einige komplexe Strukturen, die man verstehen muss, wenn man den belgischen Staatsaufbau begreifen will. Aber abgesehen davon sind die Dinge sehr einfach.  Es gibt dafür einen sehr nachvollziehbaren Grund: Der belgische Föderalismus ist der Versuch, die Reibungsflächen zwischen Wallonen und Flamen möglichst abzubauen und die Zusammenarbeit auf das zu konzentrieren, wo es wirklich einen Mehrwert für Zusammenarbeit gibt (also ein dissoziatives Modell).  Man hat sich etwas auseinanderorganisiert, um nicht dauernd in der Situation zu stecken, dass man das, was bei einem selbst nicht funktioniert, dem anderen in die Schuhe schieben kann.

So ist z.B. in Belgien eine Zuständigkeit immer nach dem Prinzip der ausschließlichen Gesetzgebungshoheit organisiert. So etwas Komplexes wie die deutsche Rahmengesetz-gebungskompetenz, die ja nicht mehr besteht (die aber in der ganzen Raumordnungsfrage gerade auch aktuell aus bayerischer Sicht noch einige Fragen aufwirft) gibt es in Belgien nicht. Ebenso wenig das typisch deutsche Prinzip der ‚konkurrierenden Gesetzgebungshoheit’, in deren Rahmen beispielsweise die Hochschulpolitik der Landeskompetenz unterliegt, die aber unter den Voraussetzungen des Grundgesetzes an den Bund übertragen werden kann, wenn dieser das möchte. Dies kann demnach zu Bundesgesetzen im Hochschulwesen führen, welche dann wiederum seit 2006 (der größten deutschen Föderalismusreform aller Zeiten, die aber im Schatten der Fußballweltmeisterschaft weitgehend unbemerkt geschehen ist) dennoch durch das Landesgesetz abgeändert werden können.  Das ist kompliziert! 

Kompliziert ist auch, dass in Deutschland in der Regel jedes Bundesgesetz von sechzehn Landesregierungen als landeseigene Angelegenheit ausgeführt wird und dass es einer besonderen grundgesetzlichen Legitimation bedarf, um eine bundeseigene oder eine Bundesauftragsverwaltung zu organisieren.  So etwas ist kompliziert! In Belgien ist es immer ganz einfach:  Wenn der Bund zuständig ist, ist der Bund zuständig; wenn die Landesebene zuständig ist, ist die Landesebene zuständig.  Jeder ist dann sowohl für die Gesetzgebungsfragen zuständig als auch für die Ausführung und sogar für die internationalen Beziehungen in dem entsprechenden Bereich – was dazu führt, dass die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft mehr internationale Befugnisse hat als das große Bayern und das zahlenmäßig noch größere Nordrhein-Westfalen.  Machen Sie sich keine Sorgen.  Wir bilden uns darauf nicht besonders viel ein.  Es hat aber natürlich eine große Bedeutung bei der Wahrnehmung der Zuständigkeiten, die Belgien jetzt während sechs Monaten anlässlich des Europäischen Vorsitzes zu gewährleisten hat. 

Belgien ist ein Land voller Vielfalt und zudem ein sehr kleines Land. Gerade deshalb muss es sich weiterentwickeln, um diese Vielfalt auf so engem Raum gemeinsam zu gestalten – manchmal auch im Rahmen von Konflikten.  Ein besonderer Zankapfel ist dabei schon immer Brüssel und sein Umfeld gewesen.  Darum geht es übrigens auch jetzt…  Brüssel kennt natürlich jeder, der hier ist – nicht weil er die belgischen Nuancen und Subtilitäten rund um den Sprachenkonflikt in Brüssel auswendig beherrscht, sondern weil dort ein Großteil der europäischen Institutionen angesiedelt ist. (Es gibt in Brüssel übrigens kaum einen schöneren und gastfreundlicheren Ort als die Bayerische Vertretung bei der Europäischen Union – „Kleinschwanstein“ nennt man das hierzulande ebenso wie in Belgien.  In diesem eindrucksvollen Gebäude arbeiten rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Interessen Ihres Bundeslandes bei der EU sehr aktiv und kompetent vertreten).

Belgien ist das Land, in dem europäische Institutionen sitzen und in dem man sozusagen aus dem Reagenzglas erfährt, was die europäische Vielfalt mit all ihren Dimensionen beinhaltet.  Wer sich in Brüssel befindet, erfährt dies zunächst natürlich durch die Präsenz der europäischen Institutionen, die entscheidend mit dazu beiträgt, dass In Brüssel mehr Journalisten akkreditiert sind, als in Washington.  Aber auch die innerbelgische Vielfalt lässt erahnen, welch wichtige Herausforderungen die europäische Vielfalt insgesamt birgt.  Deshalb ist Belgien ein europäisches Laboratorium ‚par Excellence’ – mit allen interessanten und auch manchmal etwas schwierigeren Seiten, die hiermit verbunden sein können.

Belgien ist auch (übrigens genau wie Bayern – das verbindet uns) ein Vorreiter in Sachen Subsidiarität – das Leitmotiv der bayerischen Europapolitik.  Ich selbst habe sehr oft die Möglichkeit, mit bayerischen Politikern im Ausschuss der Regionen bei der EU zusammenzusitzen und erlebe dann dort, wie massiv und intensiv sich die bayerischen Regierungsmitglieder dafür einsetzen, dass Europa nicht zu viel von dem regelt und organisiert, was man eigentlich besser auf der regionalen oder Landesebene machen kann.  Da finden Sie bei den belgischen Regionen und Gemeinschaften immer verlässliche Partner.

A propos „Regionen und Gemeinschaften“… Das ist dann eines der zwei Dinge, die in Belgien ein bisschen kompliziert sind.  Wenn Sie diese Begriffe hören, denken Sie vermutlich an alles Mögliche, gerade wenn Sie sich den Ausdruck Gemeinschaft durch den Kopf gehen oder auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht denken Sie hierbei an Ihren Club, eine Religionsgemeinschaft, ein eheliches Güterrecht oder Ähnliches. Vermutlich kommen die Wenigsten auf die Idee, dass in Belgien neben den Region auch die Gemeinschaft das sind, was man im deutschen Sprachraum in der Regel ein Bundesland nennt. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die Landesebene in Belgien ein bisschen kompliziert organisiert ist.  Das hat geschichtliche Gründe, auf die ich an dieser Stelle jedoch nicht im Detail eingehen werde, die Sie aber in den Unterlagen nachlesen können, die Sie vorhin erhalten haben. Wenn man diese Organisation der Landesebene verstanden hat, gibt es in Belgien selbst für einen Bayern, praktisch keine Geheimnisse mehr.

Daneben gibt es noch eine Besonderheit, die die Bayern an Belgien manchmal schätzen.  In der belgischen Politik laufen die Dinge so wie sie laufen nämlich auch deshalb, weil es in Belgien keine Bundesparteien gibt. Ja, Sie haben richtig gehört. Es gibt in Belgien nur Landesparteien. Das habe ich mal vor einigen Jahren Ihrem damaligen Ministerpräsidenten anlässlich einer Sitzung der Ministerpräsidenten-Konferenz der Bundesrepublik Deutschland im Aachener Krönungssaal erklären können und seine Augen strahlten.  (Das war gerade der Moment, als er nach Berlin gegangen war – die Geschichte hat dann einen anderen Verlauf genommen.  Ich treffe ihn übrigens demnächst wieder sehr regelmäßig, weil mich der Ausschuss der Regionen in seine „High-Level-Group“ zur Vereinfachung Europas geschickt hat. Da steht noch sehr viel höchst interessante Arbeit an, aber das ist nicht das heutige Thema). Jedenfalls funktioniert das belgische Parteiensystem aus Bayrischer Sicht so, als ob es in der Bundesrepublik den Fall der CSU, den Sie ja alle kennen (eine sehr autonome Regionalpartei) auch bei den anderen politischen Richtungen – also fünf Mal in Bayern – gäbe und man dasselbe zudem in den fünfzehn anderen Bundesländern wiederfände. Aus der Summe dieser vielen Regionalparteien ergäbe sich die Gesamtheit der Parteien, die für die Bildung einer Bundesregierung in Frage kommen.  Das ist Belgien!  Das ist natürlich sehr speziell und man muss sich mit dieser Vorgehensweise schon etwas näher auseinandersetzen… aber ein solches Politiksystem hat für bayerische Vorverständnisse durchaus etwas Sympathisches – da bin ich mir ziemlich sicher…

Was hat Belgien noch alles so zu bieten?  Über die tollen Vorteile des Industrie- und Investitionsstandortes Belgien werden Ihnen gleich jene Leute etwas berichten, die mehr Kompetenz in diesem Bereich aufweisen können. Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen Punkt eingehen, der Sie als Bayern besonders interessieren dürfte: Belgien hat zwar kein Oktoberfest, wohl aber etwas, das mit dem Oktoberfest eng verbunden ist: Bier! Sie trinken übrigens öfter belgisches Bier als Ihnen wahrscheinlich lieb ist, seitdem die InBev-Gruppe so einiges in Deutschland aufgekauft hat.  Belgien hat sogar eine unwahrscheinliche Biervielfalt. Die überrascht und beeindruckt jeden, der mit deutschem Geschmack nach Belgien und speziell nach Brüssel fährt.  Wenn Sie sonst keinen anderen Grund wüssten, mal nach Belgien zu kommen, dann würde sich eine Reise allein deshalb schon lohnen. Um Ihnen das deutlich zu machen, lese ich Ihnen mal ein paar Zeilen aus einem Artikel aus „DIE ZEIT“ (der großen deutschen Wochenzeitschrift) vor, der im April 2004 unter dem Titel „Im Bierhimmel“ veröffentlicht wurde. Der Journalist hatte zuvor an einer Promotion-Tour für deutsche Journalisten in belgischen Bierbrauereien teilgenommen, in deren Rahmen die Herren und Damen einige der insgesamt 750 belgischen Biere kennenlernten. Live aus der Kneipe…

 „Der Wirt reicht uns die Getränkekarte. Fassungslos starren wir auf das Angebot: „tiefrotbraun, karamellwarm, voll und rund, sanfter Abgang, mit einer Spur reifer Waldfrüchte.“  Es geht hier nicht um einen Bordeaux, sondern um ‚Engel’, ein Bier mit 7% Alkoholgehalt.  Wir halten offenbar eine Bierkarte in der Hand!  Neben dem ‚Engel’ steht das ‚Düvel’ („8,5%, trockenes Mundgefühl, bitterer Abgang“).  Es gibt auch ein Kirschbier und ein anderes mit „angenehm warmem, alkoholischem Abgang (10%)“. Eine Sorte heißt ‚Mort Subite’, was auf nichts anderes verweisen kann als den plötzlichen Tod an der Frischluft.  Was wir erleben, ist nicht weniger als ein Kulturschock.  Hopfen und Malz wurden an unserer Wiege besungen, und nun das: Zucker und Mais, Honig und Reis, Kräuter und Obst! All das im Bier! Und die Hausmarken der Domusbrauerei nennen sich ‚Nostra Domus’ und ‚Con Domus’.  Belgier finden so was lustig.“ 

Dann kommt der Schlusssatz, der ist auch ganz toll… Die Damen und Herren sind zurück und landen dann wieder in einer Bahnhofsgaststätte irgendwo an einem bundesdeutschen Bahnhof.  „In dieser Bahnhofsgaststätte stellen wir fest, dass deutsches Bier labberig schmeckt, fade und uninteressant.  Das Trinken macht keinen Spaß. Die Biertrinker wirken unfroh.  Kein Zweifel: Das deutsche Reinheitsgebot ist ein Desaster.  Weg damit!“.

 Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!