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Eine alltägliche Verwirrung „à la belge“


Die Ereignisse der letzten Tage, Wochen und Monate – und nicht zuletzt sogar Jahre – erinnern mich immer wieder an die kurze parabelartige Geschichte des großen Literaten Kafka.

Die Geschichte beginnt mit dem richtunggebenden Satz: „Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung.“ Kafka berichtet von A und B, die sich in H treffen möchten, um ein äußerst wichtiges Geschäft abzuschließen. Allerdings schaffen sie es nicht zusammen zu kommen. Die verschiedenen Weglängen und mangelnde Vereinbarung des Treffpunktes führen zu keinem Ausweg – ein Verwirrspiel sondergleichen!
Die Erzählung birgt pure Ironie, denn die beiden haben sogar irgendwann miteinander gesprochen, ohne dass sich A dessen bewusst wurde. Offenbar war er auf den Gedanken so sehr verfallen, B nur in H zu treffen, dass er nicht in der Lage war, B an anderer Stelle wahrzunehmen. Wer nun auf ein Happy End hofft, der wird leider enttäuscht: am Schluss kommt es zu einer Verwechslung, A und B kommen nicht zum Geschäftsabschluss.

Übertragen auf die aktuelle Thematik wird man sich sicher fragen, wer nun A und B sind? Sind es Di Rupo und De Wewer? Flamen und Wallonen? Zweifelsfrei könnte es – typisch für Kafka – jeder sein. Nur Gut und Böse spielt in der Geschichte keine Rolle. Das kommt gut gelegen, denn auch die Flamen und Wallonen sollten aufhören, einander unnötig zu dämonisieren. Das führt nur zu kontraproduktiv statische Zustände. Bleiben wir also weiter bei den beliebigen Größen A und B.

Seit vier Monaten wartet das Land auf eine neue Regierung. Die Geschichte wiederholt sich ununterbrochen im kleinen Belgien, das Grundproblem ist seit zehn Jahren das gleiche. Der belgische Föderalismus, die Kompetenzen der einzelnen Gliedstaaten – vor allem zwischen A und B – müssen neu geregelt werden. Doch sie scheitern daran, mehrheitsfähige Koalitionen zu bilden, die eine Verfassungsreform beschließen können.

Beide möchten ähnlich wie bei Kafka zum Geschäftsabschluss kommen, schaffen es jedoch nicht und das, obwohl in der gegenwärtigen Situation beide Parteien ähnliche Konzepte ausgearbeitet haben. Die Vorschläge von De Wever weichen nicht so weit von Di Rupos Konzept ab. Allerdings bedeutet das nicht, dass eine Einigung unmittelbar bevorsteht.

Über dem Bürger schwebt das Gespenst einer Spaltung Belgiens! Kommen A und B – ähnlich wie in Kafkas Parabel – nicht zu einem Geschäftsabschluss?
Ganz so dramatisch betrachte ich die Situation nicht. Die Probleme sind zwar da, das steht außer Frage, jedoch gehört der Streit um die Ausgestaltung des belgischen Bundesstaatsmodells in gewisser Weise zur belgischen Identität, zum „Alltäglichen“. Zudem glaube ich, dass die Bürger verstanden haben, dass Neuwahlen keine Lösung sind, denn das würde die bestehenden Fronten verhärten. Diese Tatsache erhöht den Druck auf die Politiker, einen Kompromiss zu finden, der den Weg für eine Regierung freimacht.

Schlussendlich wird also mal wieder der berühmte belgische Kompromiss kommen, und mit ihm vorerst ein Happy End. Belgiens A und B werden sich im Gegenteil zu Kafkas Charakteren einigen können! Was mich so optimistisch stimmt, wird sich bestimmt so mancher fragen.

Ich glaube an den Pragmatismus der Belgier. Denn die Aufteilung Belgiens wäre noch erheblich komplizierter als sich im jetzigen Staatswesen auf Reformen zu einigen … es ist eine alltägliche Verwirrung, aber eben „à la belge“.

Karl-Heinz Lambertz
Ministerpräsident