Neujahrsansprache 2011 von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens
Eupen, 01.01.2011
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
mit Beginn des Jahres 2011 lassen wir das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts endgültig hinter uns. Seit der Milleniumswende hat sich auf unserem Planeten Erde vieles verändert. Es hat bemerkenswerte Fortschritte gegeben und es konnten erfreuliche Erfolge erzielt werden. Es haben aber auch beunruhigende Entwicklungen stattgefunden und es ist ebenfalls zu bedauerlichen Misserfolgen gekommen. All dies hat dazu beigetragen, dass wir heute vor zahlreichen neuen Herausforderungen stehen, die es zu bewältigen gilt.
Dazu gehören zweifellos der weltweite Kampf gegen die Ursachen des Klimawandels, die Folgen von Naturkatastrophen und die wachsende Armut in zahlreichen Ländern der südlichen Hemisphäre. Dazu gehören auch die Sicherung des Weltfriedens und die Bekämpfung des internationalen Terrors ebenso wie der Einsatz für den Respekt der Menschenrechte in allen Staaten der Welt.
Auf Weltebene stellen wir übrigens eine deutliche Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Kontinenten fest, bei der Europa zunehmend an Bedeutung verliert. Die Erweiterung der EU um 10 mittel- und osteuropäische Staaten, die Einführung des Euro und das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags haben die Einigung des europäischen Kontinentes zwar erheblich vorangebracht, die ungenügende politische Integration und die Schwerfälligkeit der Entscheidungsprozeduren verhindern jedoch, dass der europäische Einigungsprozess seine volle Wirkung entfalten kann. Dies ist nicht zuletzt deutlich geworden bei der Bekämpfung der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit den 1920er Jahren, in deren Kielsog nach der Bankenrettung nun zahlreiche europäische Staaten in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten zu geraten drohen.
Auch wenn vielerorts Europaskepsis herrscht, gibt es zur Fortsetzung und Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses keine brauchbare und wünschenswerte Alternative.
Auch deshalb können wir zu Recht darauf stolz sein, dass die gestern zu Ende gegangene belgische Präsidentschaft der EU allgemein als äußerst erfolgreich bezeichnet wird. Die belgischen Regierungen auf föderaler und gliedstaatlicher Ebene haben nun schon zum zweiten Mal seit der Jahrhundertwende bewiesen, dass sie auch oder vielleicht sogar gerade als kleines Mitgliedsland in der Lage sind, Europa konkret voranzubringen.
Die Belgier sind weit über die Grenzen unseres Landes für ihre Kompromissfähigkeit bekannt und berühmt. Doch wie steht es um die Suche nach Kompromissen bei der Staatsreform und der föderalen Regierungsbildung?
Belgien war bisher und ist immer noch eine Erfolgsstory. Nach fünf Reformen zur Umwandlung des ehemaligen Einheitsstaates Belgien in einen Bundesstaat, muss auch diesmal wieder der berühmte „belgische Kompromiss“ gefunden werden.
Zu Recht und völlig richtig hat König Albert II in seiner diesjährigen Weihnachtsansprache festgestellt, dass alle Elemente für einen tragfähigen Kompromiss auf dem Tisch liegen und dass nun die Zeit gekommen ist, verantwortungsbewusst Entscheidungen zu treffen.
Eines steht jedenfalls fest: es wird im zukünftigen Belgien zu einer bedeutenden Schwerpunktsverlagerung kommen, die den Gemeinschaften und Regionen mehr Zuständigkeiten und Verantwortung bringt.
Was bedeutet dies für die DG, die im vergangenen Jahr den 90. Jahrestag des Versailler Vertrags und damit ihre Zugehörigkeit zu Belgien begangen hat? Wenn die Autonomie der belgischen Gliedstaaten erweitert wird, wenn die institutionelle Landschaft Belgiens vereinfacht wird, wenn Gemeinschaften und Regionen sich überall im Lande weiter annähern und verschmelzen, dann muss die DG ihren Platz als gleichberechtigter Partner neben Flandern, der Wallonie und Brüssel behaupten. Der Allparteienkonsens ist klar und unmissverständlich: Wir, die deutschsprachigen Belgier, sind bereit, gewillt und in der Lage, als Gemeinschaft/Region mit angemessenen Mitteln und Finanzierungsmöglichkeiten alle Befugnisse auszuüben, für die in einem zukünftigen Belgien die Teilstaaten zuständig sind. Denn wenn wir ein eigenständiger und gleichberechtigter Teilstaat in Belgien bleiben wollen, wenn wir nicht absichtlich oder aus Versehen wegrationalisiert oder zu einer Untergliederung der Wallonischen Region degradiert werden wollen, dann haben wir bei der jetzt absehbaren Entwicklung des belgischen Bundesstaatsmodells auf Dauer keine andere Alternative!
Diesen klaren Standpunkt müssen wir in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten immer wieder in Erinnerung rufen. Für seine Berücksichtigung müssen wir gemeinsam werben, verhandeln und gegebenenfalls auch kämpfen.
Das ist die eine Seite der Medaille… Die Kehrseite dieser Medaille konfrontiert uns mit einer Frage, die sich völlig zu recht viele Bürgerinnen und Bürger stellen, die wir uns selbst natürlich auch stellen, und das nicht erst seit heute. Und diese Frage lautet: Sind all die Zuständigkeiten und Verantwortungen für die kleine DG überhaupt verkraftbar? Können wir all das, was da auf uns zukommt und von uns erwartet wird, überhaupt leisten? Diese Fragen sind nicht neu, sie haben die DG in ihrer fast vierzigjährigen Geschichte seit den Anfängen in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis heute ständig begleitet. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte im Umgang mit der stets wachsenden Autonomie hat gezeigt, dass wir bisher alle unsere Zuständigkeiten mindestens genauso gut verwalten wie der belgische Staat oder die Wallonische Region vorher. Auch das Unterrichtswesen hielten viele vor mehr als zwanzig Jahren für nicht verkraftbar. Heute sind wir uns einig, dass die eigenständige Verwaltung dieser Zuständigkeit eine große Chance für die Gemeinschaft darstellt. Dasselbe trifft auf die Zuständigkeiten in den Bereichen Kultur, Beschäftigung und Sozialwesen zu. Und kein Bürgermeister, Kommunalpolitiker oder Mitglied eines Kirchenfabrikrates zwischen Ouren und Neu-Moresnet wird ernsthaft die bedeutenden Verbesserungen in Frage stellen, die dank der Übernahme der Zuständigkeiten für die lokalen Angelegenheiten seit 2005 erreicht werden konnten. Unsere eigenen Erfahrungen lehren uns genau wie die Erfahrungen anderer kleiner Gemeinwesen in Europa und anderswo auf dem Planeten Erde, dass wir durchaus auch große Aufgaben erfolgreich meistern können, wenn es gelingt, selbstbewusst die eigenen Stärken konsequent zu nutzen und zielstrebig maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln.
Das klappt in der Regel übrigens umso besser, je genauer man weiß, wo man hin will, in welche Richtung der Weg in die Zukunft führt und welche Etappenziele dabei zu erreichen sind. Das auf der Grundlage einer Stärken-Schwächen-Analyse erstellte REK, das „Regionale Entwicklungskonzept“, enthält ein Leitbild für die zukünftige Entwicklung unserer Heimat und definiert in fünf Bereichen strategische Ziele vor dem Zeithorizont 2025. Dabei handelt es sich um eine langfristige Vision für die Gemeinschaft, deren Umsetzung sich über mehrere Legislaturperioden erstrecken wird. Im Frühjahr 2011 wird die Regierung ein erstes Umsetzungsprogramm vorlegen, das 16 Zukunftsprojekte umfasst und in den kommenden Jahren in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinden und vielen anderen Partnern in der DG, in Belgien, in den benachbarten Grenzregionen und in anderen Regionen Europas verwirklicht werden soll.
Ist damit die Frage nach der Verkraftbarkeit der neuen Zuständigkeiten erschöpfend und schlüssig beantwortet? Natürlich nicht! Die geringe Größe unserer Gemeinschaft führt auch zu Schwierigkeiten. Wir müssen mit relativ geringen Mitteln und einer begrenzten Anzahl von Mitarbeitern ein sehr breites Spektrum an Zuständigkeiten verwalten und gestalten, wir können nur begrenzt Einsparungen durch Skaleneffekte erzielen, wir benötigen qualifiziertes zweisprachiges Personal, das auch außerhalb der Gemeinschaft sehr begehrt ist.
Wie kann man diesen Schwächen gezielt begegnen und sie erfolgreich überwinden?
Erstens: Wir müssen maßgeschneiderte Lösungen entwickeln. Die unkritische Übernahme von Arbeitsweisen, die in größeren Gemeinwesen angewandt werden, führt unweigerlich zu einem erhöhten Mitteleinsatz. Wir müssen vielmehr Arbeitsmethoden entwickeln, die unserer Größe angepasst sind und die es uns ermöglichen, unsere Stärken zu nutzen.
Zweitens: Wir brauchen eine neue Aufgabenteilung zwischen Gemeinschaft und Gemeinden, denn mehr Autonomie für die Gemeinschaft soll auch mehr Eigenverantwortung für die Gemeinden bedeuten. Unnütze Verwaltungswege zwischen Gemeinschaft und Gemeinden müssen abgeschafft werden.
Drittens: Wir müssen auf Kooperation mit Partnern im In- und Ausland bauen. Auf der Grundlage von Zusammenarbeitsvereinbarungen sollen wir ihre Dienstleistungsangebote nutzen und ihnen im Gegenzug gewisse unserer eigenen Angebote zugänglich machen.
Viertens: Wir können gegebenenfalls immer noch dazu übergehen, andere Gebietskörperschaften gegen eine entsprechende Kostenübernahme mit der Wahrnehmung bestimmter Zuständigkeiten zu beauftragen.
Die DG ist für die Übernahme neuer Verantwortungen gerüstet. Sie steht auf einem soliden Fundament, das durch die doppelte Refinanzierung zu Beginn des vergangenen Jahrzehntes erheblich verstärkt wurde und dem durch eine konsequente Infrastrukturpolitik im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial-, Kultur- und Sportbereich funktionstüchtige Etagen aufgesetzt wurden. Der zu Ende des vorigen Jahrhunderts entstandene Investitionsstau konnte weitgehend abgebaut werden. Auch die finanziellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise wurden gemeistert, ohne das breite Dienstleistungsspektrum der Gemeinschaft und die damit zusammenhängenden rund 4000 Arbeitsplätze zu gefährden.
Dabei wurden die krisenbedingte Neuverschuldung möglichst gering und die Handlungsspielräume zukünftiger Regierungen so groß wie eben möglich gehalten. Es besteht jedoch kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. In den bisherigen Zuständigkeiten bleibt noch viel zu tun und in den neuen mangelt es ganz gewiss nicht an Handlungsbedarf.
Sie sehen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
die DG steht am Anfang des zweiten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts vor großen und langfristigen Herausforderungen, die jedoch allesamt auch neue Chancen mit sich bringen.
Und jeder einzelne von Ihnen kann dazu beitragen, dass diese Möglichkeiten zum Wohl der Menschen in unserer Gemeinschaft genutzt werden. Auch in turbulenten und bewegten Zeiten braucht der Mensch Ruhe. Hier bietet die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr die Möglichkeit, im Kreise der Familie inne zu halten und zu entspannen. Ich hoffe, dass Sie alle trotz des notwendig gewordenen schweißtreibenden Schneeschaufelns in diesen Tagen die Möglichkeit gehabt haben, aus dieser Ruhe heraus Inspiration und neuen Schaffenskraft zu schöpfen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen im Namen der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein erfolgreiches und vor allem glückliches Jahr 2011.
Reden-2011-01-01-Neujahrsansprache (161.3 KiB)