Reden

Rede anlässlich des ch Regierungs-Seminars 2011 der „ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit“ Interlaken/CH


Rede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, zum Thema: „Beispiele der Mitwirkung einer Region in der Europapolitik eines Mitgliedstaats der EU“ anlässlich des ch Regierungs-Seminars 2011 der „ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit“Interlaken/CH, 6. Januar 2011

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Sehr geehrte Frau Bundesrätin,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Kantonsregierungen,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Sie haben mir mit Ihrer Einladung hier nach Interlaken eine große Freude bereitet. Seit meiner Studentenzeit, die nun schon fast ein halbes Jahrhundert vorbei ist, habe ich mich immer wieder sehr intensiv mit dem Schweizer Föderalismus beschäftigt. Ja, die Schweiz ist in etwa der Urvater aller Föderalismus-Strukturen in Europa und selbst in der Welt. In den 20 Jahren, in denen ich schon Mitglied einer belgischen Teilregierung bin, habe ich aus beruflichen Gründen immer wieder einmal in die Schweiz hineinschauen dürfen, sowohl vor Ort, als auch und vor allem natürlich in Büchern und zunehmend in Internet-Auftritten, um zu sehen: „Wie machen es denn die Schweizer?“

Belgien, das muss man schon zugeben, das ist gerade heute sehr aktuell, das nach der Schwergeburt des belgischen Föderalismus vor einigen Jahrzehnten, immer noch in den (umgangssprachlich) Flegeljahren (oder vielleicht etwas höflicher ausgesprochen) in der Pubertät steckt. Das Konzept ist noch nicht so ganz ausgereift. Es gibt noch vieles zu verbessern. Aber immerhin, Belgien funktioniert! Es ist noch nicht zerbrochen, wird auch nicht zerbrechen, und wenn man schon in einer solchen Situation steckt, ist es natürlich sehr interessant zu schauen: „Wie ist es denn in anderen Bundesstaaten dieser Welt?“

Sie haben mir aber auch eine Freude gemacht, mich zu Ihrer jährlichen Highlight- Veranstaltung hier einzuladen, denn das ist für mich eine Premiere. Ich habe noch nie die Gelegenheit gehabt, irgendwo zu sein, wo alle 26 Schweizer Kantone auf Ministerebene gleichzeitig vertreten sind. Ich muss Ihnen sagen, ich fühle mich hier auch schon von den Größenordnungen her mindestens so wohl, wie bei den regelmäßigen Treffen, die ich mit den Kollegen aus der Landesregierung Nordrhein-Westfalen habe, wo ich einem Ministerpräsidenten gegenübersetze, der es nie unterlässt, mich daran zu erinnern, dass er für 18 Millionen Menschen spricht. Dennoch haben wir ein sehr freundschaftliches und gutes nachbarschaftliches Verhältnis.

Sie haben mich aber auch ein bisschen in Verlegenheit gebracht, denn in Wirklichkeit bitten Sie mich, zu einem Thema Stellung zu beziehen, das in höchstem Maße Schweizer Innenpolitik ausmacht. Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich zwar vielleicht Lust hätte da etwas zu sagen, aber ich mich hüten werde, da all zu viel mich einzumischen.

Sie haben mich heute übrigens auch überrascht. Ich dachte wirklich, dass die einzige „Mission impossible“, die so momentan durch die europäische Politik geistert, die des neuen Kompromisses zum belgischen Bundesstaatsmodells ist, wo ja bekannterweise die Flamen und Wallonen sehr heftig miteinander streiten und keine Einigung finden, aber ich habe hier zumindest eine zweite „Mission impossible“ kennen gelernt, nämlich die, wie man mit dem Thema begrenzte Möglichkeiten des bilateralen Weges einerseits und der Unmöglichkeit des EU-Beitrittes andererseits fertig werden kann, wenn man über das Verhältnis Schweiz und EU spricht. Doch genug der einleitenden Worte… auch ich möchte mich an meine Redezeit halten.

Erlauben Sie mir in der mir verbleibenden Zeit etwas Zeugnis abzulegen von dem, was in Belgien geschieht, wenn es darum geht, die regionale Ebene in Belgien, die Ebene der Regionen mit Gesetzgebungshoheit – wenn Sie so wollen, die Kantonalebene – an der Gestaltung der Europapolitik zu beteiligen. Das mache ich auch deshalb sehr gerne, weil wir gerade einige Tage nach Beendigung des turnusmäßigen Vorsitzes der EU durch Belgien, ganz „heiße, aktuelle“ Erfahrungen haben. Ich mache das auch deshalb sehr gerne, weil die Rolle der belgischen Regionen bei der Gestaltung der belgischen Europapolitik eine sehr interessante, verantwortungsvolle und sehr weitgehende ist.

Ich möchte, ehe ich das im Einzelnen darstelle und damit ich nicht all zu viel zu reden brauche, habe ich das übrigens auch schon schriftlich verteilen lassen. Zu diesem Thema habe ich übrigens ein Buch geschrieben. Die vorliegenden Informationen können Sie darin finden. Ehe ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich etwas vorwegnehmen, nämlich den Hinweis, dass man sich bei den Vergleichen zwar sehr viele gute Ideen überall in der Welt und in Europa suchen kann, dass man aber höllisch aufpassen muss, wenn man versucht, eine dieser Ideen von einem Land in das andere zu übertragen. Die Rolle, die die belgischen Gliedstaaten bei der Gestaltung der belgischen Europapolitik betreiben ist nur verständlich, wenn man die Grundkoordinaten des belgischen Bundesstaatsmodells kennt.
Diese sind in gewissen Aspekten mit dem Schweizerischen vergleichbar, weil alle Bundesstaaten dieser Welt irgendwo auch etwas gemeinsam haben – das gilt auch für die Schweiz und für Belgien -, aber andererseits sind die Unterschiede sehr groß, gerade in den relevanten Dingen, für die Detailgestaltung dieser Beteiligung in den belgischen Bundesländer an der Europapolitik, sind diese Besonderheiten von ausschlaggebender Bedeutung. Deshalb kann ich Ihnen nichts wirklich Sinnvolles hier zu Ihrem Thema, aus belgischer Sicht, sagen, ohne Ihnen einige Elemente des belgischen Bundesstaatsmodells in Erinnerung zu rufen. Auch dazu habe ich etwas verteilen lassen, einen kurzen Text, der auf den Tischen hier liegt und den Sie sich gerne mit nach Hause nehmen können, wenn Sie es wirklich nicht lassen wollen, sich irgendwann mehr mit dem belgischen Bundesstaatsmodell zu beschäftigen (Kleine Warnung: Zur Bettlektüre eignet das sich nur in Fall, dass man schnell einschlafen möchte).

Ob nun die Beteiligung an Europa für einen Staat richtig oder schlecht ist, ob wir über Europa in euphorischen oder in skeptischen Worten reden müssen, das ist etwas, was ich hier nicht vertiefen werde. Hierzu habe ich meine eigene persönliche Überzeugung. Die werde ich am Schluss natürlich nicht verheimlichen. Das ist die innenpolitische Dimension der ganzen Diskussion. Das ist hier aus der Sicht, aus der ich spreche, Ihr Bier und nicht meines… ich kann Ihnen nur sagen, wie das in Belgien läuft.

Der belgische Föderalismus hat mit dem Schweizer gemeinsam, dass wir aus der ganz alten Geschichte heraus irgendwo alle aus dieser alten Schütterzone stammen, zwischen dem westfränkischen und dem Deutsch-Römischen Reich. Wenn Sie sich die Geschichte einmal genau anschauen, werden Sie sehen, dass sich die Schweiz, ebenso wie Belgien, irgendwo einmal entstanden ist. Das kann aber für die aktuelle Europapolitik nicht sehr viel bringen, hat aber trotzdem einige interessante Aspekte, wenn man Dinge vergleichen will und wenn man vor allem mit dem Thema Mehrsprachigkeit in unseren beiden Staaten umgehen will.
Ansonsten ist der Weg zum Föderalismus völlig entgegengesetzt. Die Schweiz kommt von unabhängigen Staaten, die eine zunehmende Annäherung gemacht haben in der Form einer Eidgenossenschaft, die man auf Französisch fälschlicherweise „Confédération“ nennt, obschon es eine „Fédération“ ist. Belgien geht den entgegengesetzten Weg. Das war einmal ein dezentralisierter Einheitsstaat. Die Flamen und Wallonen haben sich da so intensiv auseinander gelebt, dass sie eigentlich nur noch weiter in einem Staat zusammen sein können, wenn sie den mehr aufteilen, die Reibungsflächen möglichst abbauen und das Gemeinsame auf das notwendige Minimum beschränken. Das sind zwei völlig verschiedene Prozesse. Diese muss man im Hinterkopf haben, wenn man verstehen will, was da läuft.

Es gibt noch weitere Unterschiede. Der belgische Föderalismus ist zentrifugal, der Schweizer, zumindest von der Tendenz her, zentripetaler als der belgische. Das beeindruckendste Beispiel dafür ist die Tatsache, dass es in Belgien keine Bundesparteien gibt. Es gibt nur Landesparteien, d.h. die Macht in Belgien liegt in den Gliedstaaten. Da diese sehr bipolar sind, im Wesentlichen zwei große (Flandern und Wallonie); dann gibt es noch Brüssel als Gliedstaat und als Zankapfel und auch die deutschsprachige Minderheit, die ein Ergebnis des Versailler Vertrages ist und erst seit 1920 zu Belgien gehört. Diese bipolare Situation führt natürlich dazu, dass alles immer sehr schnell zuerst einmal ein Konflikt ist, kein Konflikt zwischen 26, da lässt sich auch trefflich streiten, aber da sind die Kompromisse doch so etwas, was so nach und nach entsteht. Wenn zwei sich streiten, ist das wirklich so, ja, wie bei uns allen zuhause schon einmal, das kann ja einmal vorkommen, dass man auch ein bisschen Krach bekommt. Man kann sich nicht auf 15 andere berufen, die einen Kompromiss mitgestalten, man muss selbst mit dem unmittelbaren Partner klar kommen. Das gibt der ganzen Sache natürlich eine ganz große konfliktuelle Dimension. Außerdem ist der belgische Föderalismus – das ist sehr wichtig für das Verständnis der Rolle der Gliedstaaten bei der Europapolitik – dissoziativ.

In Belgien werden die Zuständigkeiten aufgeteilt, im Prinzip nach dem Ausschließlichkeitsprinzip, entweder die Bundes- oder die Landesebene ist zuständig. Die vielfältigen Verflechtungen mit Gesetzgebungshoheit auf Bundesebene und ausführenden Kompetenzen auf Kantonsebene oder auch parallele Zuständigkeiten, wie es in vielen Artikeln der Schweizer Verfassung von 1999 der Fall ist, wo man sowohl dem Bund als auch den Kantonen in Politikbereichen Teilaspekte der Verantwortung überträgt, das gibt es in Belgien nicht. Das ist entweder die eine oder die andere Ebene. Das hat u.a. zur Konsequenz, dass die Ebene, die von der Gesetzgebung her zuständig ist, immer auch für die Ausführung zuständig ist, und ebenfalls volle völkerrechtliche Kompetenz hat, insofern die Staatengemeinschaft das anerkennt, beim Abschließen internationaler Verträge und auch auf Ebene der Mitarbeit der Europapolitik voll handlungsfähig ist. Das ist ein ganz wichtiges Element. Das ist das Kernelement des belgischen Modells bei der Wahrnehmung von europapolitischen Kompetenzen.

Es gibt noch ein paar Besonderheiten, die ich hier nur erwähnen werde, die aber nicht unserem heutigen Thema dienen. Das belgische Bundesstaatsmodell ist außerdem auf Landesebene zweigliedrig organisiert, zumindest während einer Übergangszeit. Irgendwann wird Belgien sich zu einem Bundesstaat mit vier Bundesländern hin orientieren: Flandern, Wallonie (die beiden größeren) und Brüssel und die Deutschsprachige Gemeinschaft.
Augenblicklich gibt es noch in Belgien Gemeinschaften und Regionen auf der Kantonsebene, aber dieses Thema möchte ich hier jetzt nicht vertiefen, weil das uns zu weit weg vom Thema führt. Darüber hinaus ist das Ganze noch asymmetrisch. Wenn Sie etwas wirklich Kompliziertes erleben wollen an Gestaltung einer Landesebene in einem Bundesstaat, dann schauen Sie sich Belgien an. Komplizierter geht’s nicht mehr. Aber… einen kleinen Vorteil hat das Ganze trotzdem. Es funktioniert! Es funktioniert seit mittlerweile über 30 Jahren, so schlecht funktioniert es auch wieder nicht, denn man sieht, wie z.B. Belgien momentan in Ermangelung einer neuen Bundesregierung in der Lage ist, die Geschäfte zu bewältigen. Das hat viel damit zu tun, dass in Belgien die Gliedstaaten ganz normal funktionieren. Da wie ich eben gesagt habe, die politische Macht dort angesiedelt ist, relativiert das die Bedeutung des Fehlens einer Bundesregierung – zumindest während einer gewissen Zeit. Da wird der offenkundige Widerspruch aufgelöst. Belgien hat die Präsidentschaft eigentlich ganz gut gemeistert, so der allgemeine europäische Konsens. Belgien hat die Aufgaben gemeistert, in einer Situation, wo es keine wirklich voll funktionstüchtige Bundesregierung gab. Das sind die Aspekte, die aus dieser Situation sich ergeben.

Dieser besondere Föderalismus „à la belge“ ist auch die Grundlage für die Art und Weise, wie europäische Zuständigkeiten in Belgien wahrgenommen werden. Bundes- und Landesebene, oder Kantonsebene, üben die Zuständigkeiten, die Belgien innerhalb der europäischen Entscheidungsstrukturen auszuüben hat, gleichberechtigt aus. Auf die Frage: Wer ist wofür zuständig? Muss man sich immer die innerstaatliche Aufteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten anschauen. In allen Angelegenheiten, die innerstaatlich den Gemeinschaften und Regionen übertragen sind, liegt das letzte Wort nicht beim belgischen Außenminister der belgischen Regierung, sondern bei der Gesamtheit der belgischen Regionen und Gemeinschaften, die im Wesentlichen zu viert sind, bzw. zu fünft, wenn man die Asymmetrie ein bisschen vertieft. Sie müssen sich untereinander einigen, ohne dass der belgische Bund irgendeine Einflussmöglichkeit hat – zumindest keine juristischer Natur. Wenn sie das nicht tun, muss Belgien sich bei einer Ministerratsentscheidung enthalten. Das kommt äußerst selten vor. Jeder weiß natürlich bei der dritten Enthaltung hat sich das System selbst ad absurdum geführt, also wird selbst in den schwierigsten Konfliktsituationen in Belgien immer wieder, bei der europäischen Meinungsfindung, ein Kompromiss zustande kommen.

Das gilt für die inhaltliche Gestaltung der Standpunkte und auch für die Wahrnehmung der Funktionen. Im Europäischen Ministerrat sitzen entweder Bundes- oder Landesminister, je nachdem, ob die Zuständigkeiten des jeweiligen Ministerrates zu der einen oder anderen Ebene gehören. Das hat z.B. dazu geführt, dass bei der jetzigen Präsidentschaft gewisse Ministerräte von der Ministerkollegin in meiner Regierung geleitet wurde, im Namen von Belgien und im Namen der Europäischen Union, das war etwa der Fall für den Tourismusministerrat, der übrigens zum ersten Mal getagt hat, weil erst seit dem Lissabon-Vertrag Tourismus überhaupt ein Thema ist, zu dem es formelle Ministerräte geben kann.
Wenn die Zuständigkeit gewisser Ministerräte sowohl die Bundes- als auch die Landesebene betrifft, dann ist der Bund der Wortführer und ein Vertreter der Gemeinschaften und Regionen ist immer als zweiter Vertreter dabei.

Das Ganze kann natürlich nur geschehen, wenn es eine Kooperation im Vorfeld gibt. Diese findet statt auf der Grundlage eines Kooperationsabkommen zwischen der belgischen Bundesregierung und den Regierungen der Gemeinschaften und Regionen aus dem Jahre 1994. Da steht drin wie der Turnus organisiert wird und wer wann, in Namen Belgiens, wo zu sprechen hat und wie er sich mit den anderen Gliedstaaten konzertieren muss, um zu einem belgischen Standpunkt zu kommen. Dieses Verfahren ist relativ aufwändig. Es funktioniert jedoch sehr gut. Es lässt sich aber nicht ohne weiteres auf einen Staat übertragen, in dem 16 (wie in Deutschland) oder 26 (wie in der Schweiz) Gliedstaaten betroffen sind. In Belgien funktioniert diese Beteiligung an den Europäischen Ministerräten so, wie ich es gerade gesagt habe, auf eine sehr direkte Art und Weise. Koordiniert wird das Ganze von einem Gremium, was man in Belgien in seiner Bedeutung nicht unterschätzen sollte: Das ist der Konzertierungsausschuss. Das ist ein Gremium, in dem der Premierminister, die Vizepremierminister sowie die Ministerpräsidenten und -präsidentinnen der einzelnen Gliedstaaten zusammensitzen. Das ist ein gesetzlich geschaffenes Gremium. Da werden alle Punkte diskutiert, verhandelt und im Konsens beschlossen, die mit all diesen in Verbindung stehen.

Das führt auch dazu, dass in der Ständigen Vertretung Belgiens in der EU die verschiedenen Gliedstaaten ebenfalls Mitarbeiter entsandt haben, die dort an der Vorbereitung der europäischen Entscheidungsprozesse im Rahmen der „Komitologie“, die im Ministerrat herrscht, teilgenommen haben. Das ist ein sehr direktes Mitspracherecht auf der Ebene des Ministerrates.
Bei den Parlamenten ist das nicht sehr viel anders. Das Zustimmen zum europäischen Primärrecht, dazu gehörten auch gewisse Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, ist in Belgien nur möglich, wenn sowohl das Bundesparlament als auch die Parlamente der verschiedenen Gemeinschaften und Regionen zustimmen. Wenn die sehr kleine Deutschsprachige Gemeinschaft in ihrem Parlament nicht dem Lissabon-Vertrag mehrheitlich zugestimmt hätte, wäre es für Belgien unmöglich gewesen, diesen Vertrag zu ratifizieren! Das nur um zu zeigen, wie weit die direkte Mitsprache von Regierung und Parlament nach dem belgischen Modell der Wahrnehmung europäischer Zuständigkeiten geht.

Das ist ein System, das sich noch fortsetzt, bei einem Punkt, der in Zukunft meines Erachtens sehr wichtig werden wird, nämlich bei der Subsidiaritätskontrolle. Wir haben heute Morgen auch Aussagen darüber gehört, ob die Zuständigkeitsverteilung innerhalb der EU verschwommen oder klar ist. Meine Lektüre der Verträge führt mich schon dazu, zu sagen, dass es im Prinzip ziemlich klar ist, sogar sehr klar, und auch justiziabel, in welchen Bereichen die EU Verordnungen oder Direktiven machen kann. Es ist auch zunehmend so, dass die EU nach dem Lissabon-Vertrag ein System der Subsidiaritätskontrolle eingeführt hat, in dem die nationalen Parlamente, sowohl im Frühwarnsystem (also antizipativ „Ex ante“), als auch durch Gerichtsklage beim Europäischen Gerichtshof intervenieren können. Auch da sind die Parlamente, sowohl auf der Bundesebene als auch in den Gliedstaaten wieder direkt beteiligt. Das sind die Möglichkeiten, die in Belgien den Gemeinschaften und Regionen übertragen wurden, um sich an der Gestaltung der Europapolitik zu beteiligen.

Natürlich bedeutet Europa Abgabe von Souveränität. Das ist das Wesen der Europäischen Union. Ist die Europäische Union demokratisch? Ich denke ja, aber sie funktioniert nicht nach der parlamentarischen Demokratie, schon gar nicht nach der direkten Demokratie, so wie wir sie in unseren Staaten, und Sie speziell hier in der Schweiz, kennen. Das ist schon ein Konstrukt sui generis, weil es im Völkerrecht noch keine Bezeichnung gibt, wie man eine solche Zusammenarbeit wirklich gestalten kann. Sie muss demokratischer gestaltet werden.
Sie muss auch meines Erachtens umgepolt werden. Es werden viel zu viele Details in Brüssel geregelt. Bei weltpolitischen Dingen ist Europa sehr oft ein ganz winziger Zwerg. Das haben wir ja auch aus den Worten von Herrn Oettinger eben noch einmal sehr eindrücklich erklärt bekommen.

Ich bin aber auch der Meinung – das soll das Wort des Abschlusses sein -, dass es zu dem europäischen Einigungsprozess, so schwierig und kompliziert er auch sein mag, und so lange er noch dauern wird, keine wirkliche Alternative gibt. Aus vielen Gründen…

Die Integration wird entwickeln. Ob sich Europa noch substantiell erweitern wird oder soll, ist eine ganz andere Frage. Die Erweiterung von 2004 hat auch wegen der gescheiterten vorhergehenden Reform beim Nizza-Vertrag viele Schwierigkeiten gebracht. Europa steht auch jetzt in einer sehr tiefgreifenden Krise. Europa muss da raus! Ich denke, Europa wird auch herauskommen. Die Staaten, aber auch die Regionen in Europa, werden eine wichtige Rolle spielen.
Wie diese Rolle aussieht, hängt sehr stark von der innerstaatlichen Organisation eines jeden Landes ab. Es ist auf jeden Fall sehr wichtig, dass, wenn Europa mehr an Bedeutung gewinnt, auch innerhalb der Staaten die regionale Ebene, ganz besonders dann, wenn es eine regionale Ebene mit Gesetzgebungshoheit wird, entsprechend dem Verlust an eigener Souveränität zusätzliche Mitsprache bekommt, sowohl innerstaatlich als auch auf europäischer Ebene.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das war das, was ich Ihnen aus der belgischen Erfahrung heraus hier sagen wollte. Ich bin jetzt fest davon überzeugt, dass ich Ihnen keine einzige brauchbare 1:1 übernehmbare Lösung gebracht habe. Ich habe zumindest versucht, Ihnen ein klein bisschen über Belgien zu erzählen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!