Reden

Rede anlässlich des Internationalen Kolloquiums « Ethnische- und Sprachminderheiten in Europa – Reichtum und Herausforderung »


Rede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, zum Thema: „Das Beispiel der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens“ anlässlich des Internationalen Kolloquiums « Ethnische- und Sprachminderheiten in Europa – Reichtum und Herausforderung » organisiert durch die Stiftung Joseph Károlyi, dem Institut Français in Budapest und dem Forum Carolus

Fehérvárcsurgó/Ungarn, 11. März 2011

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich will Ihnen die Situation der deutschsprachigen Minderheit in Belgien etwas näher erläutern. Ich freue mich auch sehr, dass das unmittelbar in zeitlicher Nähe zum Vortrag über Südtirol geschieht. Beide Minderheiten haben eine Menge Gemeinsamkeiten, auch eine besondere Seelenverwandtschaft, vor allem ein sehr enges partnerschaftliches Verhältnis.

Zu den Politikern, die ich am häufigsten und auch sehr gerne treffe, gehört der Landeshauptmann aus Südtirol, der noch sehr viel länger im Amt ist als ich selbst. Wir beide haben das große Vergnügen, uns regelmäßig im Ausschuss der Regionen bei der Europäischen Union in Brüssel zu treffen. Da nicht alle Sitzungen für uns thematisch relevant sind, gehen wir ab und zu in die Kaffeebar und tauschen über einige Dinge aus dem Alltag aus.

Doch jetzt genug der einleitenden Worte: Minderheit – Mehrheit. Was ist das eigentlich? Das ist ein sehr delikates Problem. Es ist genau so delikat, wie das Problem der kompletten und korrekten Definition einer nationalen oder einer regionalen Identität. Hinter der ganzen Thematik steht letztlich die Frage – die in einer früheren Kultsendung der ARD einmal eine große Bedeutung hatte – „Wer bin ich?“. Auf diese Frage wissen die meisten Menschen keine abschließende Antwort. Sie nehmen meistens das Geheimnis mit ins Grab. Denjenigen, die zu sehr danach gesucht haben, wer sie sind, kann es schon mal passieren, dass Sie bei einem Psychiater landen. Das ist je nach Ausgestaltung des Sozialsystems in dem Land, wo Sie leben, durchaus eine teuere Sache. Wie dem auch sei… all diese Dinge sind von großer Bedeutung. Es gibt keine allgemeingültigen Wahrheiten.

Man muss vor allem davor warnen, nach meiner tiefen Überzeugung, die Dinge einseitig und fanatisch zu betrachten. Die Stärke dieser Vielfalt, die hinter Minderheiten und Identitäten steckt, ist etwas, was nur erblühen kann, wenn es im gegenseitigen Respekt und in enger Zusammenarbeit geschieht. Eine Minderheit ist vor allem dann stark, wenn sie sich nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern in der Lage ist, konstruktiv und positiv zusammenzuarbeiten, sich zu öffnen, ohne ihre eigene Identität aufzugeben. Eine Minderheit hat vor allem ein Interesse daran aus ihrer Besonderheit eine Trumpfkarte zu machen, etwas, was den Menschen, die in dieser Minderheit leben, zusätzliche Entwicklungsperspektiven gibt und sie nicht nur in die Situation eines irgendwie zu schützenden Reservates hineindrängt.

Deshalb habe ich auch immer wieder, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, gesagt, Minderheitenschutz hat mindestens zwei Dimensionen: Eine ist die, zu schützen, das ist klar, es gibt bedrohte Minderheiten und Sprachen. Diese müssen geschützt werden. Da hat vor allem die internationale Gemeinschaft eine große Rolle. Da liegt auf unserem Kontinent – auf den beschränken wir uns ja jetzt mal hier – eine bedeutende Aufgabe für die Europäische Union und den Europarat.

Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Vielleicht ist das ein besonders interessantes Thema für die sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Europarat und Europäischer Union. Ich selbst kenne das Ganze etwas aus der Perspektive der regionalen Ebene. Ich bin Mitglied im Ausschuss der Regionen, wie ich bereits eben sagte; ich bin aber auch Mitglied im Kongress der Regionen und Gemeinden beim Europarat. Ich denke, dass die Synergie zwischen Europarat und Europäischer Union noch ausbaufähig ist und dass das Thema Minderheiten und Vielfalt eine ganz besondere Bedeutung hat.

Meine Hauptthese ist eine doppelte: Eine Minderheit, auch eine Region insgesamt, aber gerade eine Minderheit, ist umso stärker, je mehr sie Verankerung hat und je mehr sie bereit ist, sich zu öffnen und zusammenzuarbeiten. Öffnung nach außen und tiefe Verankerung nach innen sind zwei Seiten derselben Realität. Erfolgreich sind Minderheiten und Regionen, die das schaffen. Wer sich nur mit sich selbst beschäftigt und hinter jedem Baum einen Feind sieht, der wird am Ende als gejagtes Wild erlegt werden. Wer seine Besonderheit zu nutzen weiß, wer sich öffnet, wer daraus eine Stärke macht, wer in der Lage ist, interkulturelle Kommunikationskompetenz zu entwickeln, der ist auf der richtigen Seite.

Was ist interkulturelle Kommunikationskompetenz? Ich habe einmal eine wunderbare Definition davon gelesen, in einer Betriebszeitung des EADS-Konzerns, dort wurde gesagt: „Interkulturelle Kommunikationskompetenz ist bedeutend mehr als ein Fremdsprachenkurs oder eine Fettnäpfchenlehre für Fortgeschrittene.“ Das zitiere ich vor allem deshalb gerne immer dann, wenn Dolmetscher am Werke sind, denn das ist ein Horror-Begriff: „Fettnäpfchenlehre“ zu übersetzen… ins Französische, ins Ungarische… das ist fast unmöglich, deshalb entschuldige ich mich auch bei den Damen und Herren Dolmetscher, dass ich Ihnen solche „Grausamkeiten“ hier antue. Das soll aber der letzte Folterversuch für heute Morgen gewesen sein.

Zweite grundsätzliche Überzeugung: Minderheiten haben vieles gemeinsam, aber jede Situation ist ein Einzelfall. Man kann unwahrscheinlich viel voneinander lernen. Aber die Gefahr, dass man voreilige Schlüsse zieht, wenn man vergleicht, ist ganz besonders groß.
Deshalb muss jeder Fall als Einzelfall betrachtet werden und man muss die Elemente ermitteln, die man vergleichen kann, und welche Lehren zur Befruchtung der Situation einer anderen Minderheit aus der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft einer Minderheit gezogen werden können?

Das möchte ich in den verbleibenden Minuten Ihnen am Beispiel der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien etwas thesenhaft darstellen, ohne natürlich allzu sehr ins Detail zu gehen. Man kommt natürlich wenn man über die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien spricht nicht daran vorbei, auch über Belgien zu reden. Das ist ein Thema, mit dem ich mich sehr viel beschäftige, aus beruflichen Gründen, aber auch, weil ich mittlerweile ein bisschen in der deutschsprachigen Presse als „Pausenclown“ gelte, der immer gefragt wird, warum denn nun immer noch keine Regierung in Belgien gebildet worden ist! Ich kann hierzu ganze Repertoires an Darstellungen für Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen liefern, aber das möchte ich Ihnen alles heute ersparen.

Die Hauptthese ist folgende: Es stimmt, Belgien hat Schwierigkeiten bei der Bildung einer Föderalen Regierung. Aber wenn Sie durch Belgiens Städte und Dörfer ziehen, werden Sie nirgendwo Panzer in Wartestellung sehen; nirgendwo Menschen, die mit Säbeln aufeinander zugehen; Sie werden eigentlich ein ganz friedliches Land antreffen; Sie werden vor allem auch, wenn Sie sich diese Situation anschauen, sehen, dass dieses Land funktioniert. Es hat erfolgreich die Europäische Präsidentschaft gemeistert und sie dann in ungarische Hände weitergeleitet. Wir haben gute Ergebnisse bei der Haushaltspolitik und beim Außenhandel gehabt. Momentan sind wir dabei zu verhandeln, wie wir mit den Vorgaben zum Europäischen Semester umgehen werden, da wir das Problem einer sehr hohen Staatsschuld haben, die in Verbindung mit dem früheren Lösen des Konfliktes „Flamen/Frankophone“ steht. Man hat stets versucht, immer jedem Partner Recht zu geben und das hatte zur Folge, dass letztendlich alles doppelt bezahlt wurde. Langfristig betrachtet, ist so ein Finanzierungsmodell nicht tragbar. Eigentlich funktioniert dieses Land, was zumindest, a contrario beweist, dass der jetzige belgische Föderalismus, so wie er besteht, so schlecht nicht sein kann. Selbstverständlich – daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen – ist der belgische Föderalismus noch ausbaufähig. Er muss soweit weiterentwickelt und vertieft werden, dass den belgischen Gliedstaaten, den Gemeinschaften und Regionen, noch mehr Verantwortung und Autonomie übertragen werden.

Ich komme nun zu meinem Beispiel: Bei der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) ist sehr klein: 75.000 Menschen (Bevölkerung), 854 km2 (Fläche), also eine Besiedelungsdichte im Durchschnitt von 85 Einwohner/km2, dazu noch in zwei Unterregionen geteilt, weil nämlich zur Deutschsprachigen Gemeinschaft, hier und heute, nur die Kantone Eupen und St. Vith zählen. Der Kanton Malmédy gehört zur französischsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Ansonsten ist dieses Gebiet eine sehr schöne Mittelgebirgslandschaft, wo es sich wunderbar Fahrrad fahren und wandern lässt und wo eigentlich die Geschichte die wesentlichen Dinge bestimmt hat.

Die DG ist ein Gebiet, – das möchte ich allerdings hervorheben, das ist sehr wichtig, vor allem auch wenn ich an meinen Besuch, nächste Woche, bei den Sorben in Sachsen denke – auf dem eine kleine Minderheit ziemlich homogen lebt. Im Gebiet deutscher Sprache leben fast ausschließlich deutschsprachige Bürger. Das ist von einer gewissen Bedeutung. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen einer Minderheit, die in ihrem eigenen Gebiet die Mehrheit ist und einer Minderheit, die als Streuminderheit im Land herrscht. Da ist etwa der Unterschied zwischen der deutschsprachigen oder deutschen Minderheit in Ungarn, die sehr viel zahlreicher ist, oder in Russland, die noch zahlreicher ist, und der in der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein sehr großer.
Zwei historische Zufälligkeiten, die die Menschen in meiner Heimat nicht herbeigeführt haben, führen dazu, dass heute die Deutschsprachige Gemeinschaft eine Region mit Gesetzgebungshoheit ist, eine der kleinsten in Europa. Es gibt noch kleinere, 6 Schweizer Kantone sind noch kleiner als die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Aland-Inseln übrigens auch. Ansonsten sind wir bei den Kleinen ziemlich in der Spitze des Pelotons. Es kommt selten vor, dass man sich darum streitet, wer der Kleinste ist, aber wir machen so etwas… Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Das hat zumindest von der Medienrelevanz her durchaus interessante Vorzüge, vor allem im Zeitalter der Nanotechnologie, wo Sie ja wissen, dass das unendlich Kleine sehr große Wirkungen haben kann.

Welches sind die zwei historischen Zufälligkeiten? Erstens, der Versailler Vertrag. Das verbindet viele, die hier heute sind und die anderswo sind, wenn man über Minderheiten redet. Die Pariser Vorortsverträge haben Europa nachhaltig verändert. Ob es der Vertrag von Trianon ist, über den wir ja heute schon einiges gehört haben, indirekt als wir über die Slowakei geredet haben, ob es der Versailler Vertrag ist, oder die anderen vier Vorortsverträge, sie haben Europa gewaltig beeinflusst, auch heute noch… Wir hatten letztes Jahr zum 90jährigen Jahrestag des Inkrafttretens mit dem Goethe-Institut in Ostbelgien ein Europäisches Seminar zu diesem Thema veranstaltet. Das war sehr spannend. Ich kann jetzt schon mit Freude auf die bevorstehende Veröffentlichung aus diesem Seminar hinweisen. Sie hat Vieles erbracht.

Für die Deutschsprachigen in Belgien war dies zuerst einmal ein Jahrhundert schmerzliche Geschichte. Diese Angliederung der Ostkantone an Belgien, wo neben Eupen und St. Vith noch Malmédy gehörte, war eine willkürliche Entscheidung der Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Man hat die Menschen nie befragt. Man hat – was noch viel schlimmer ist – eine Scheinbefragung durchgeführt, weil es der Völkerbund so vorsah. Für alle, die sich auf diese Listen eintrugen, um für die Zugehörigkeit zu Deutschland zu stimmen, organisierte der belgische Staat ihre Rückreise direkt mit. In etwa 50 Menschen haben ihre Stimme abgegeben.

Es folgte eine sehr schlimme Zeit, in der es schwierig war, diese Region in Belgien zu integrieren, „pro deutsch/pro belgisch“ war ein ganz heikles Thema zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das nach 1930 von den Nationalsozialisten auch vereinnahmt wurde und zur Annektion des Gebietes durch Hitler-Deutschland führte; eine Annektion, die nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich als widerrechtlich bezeichnet und widerrufen wurde. Die Konsequenzen wurden jedoch nicht korrekt durchdacht, schließlich wurde mehr als die Hälfte der Bevölkerung wegen Kollaboration praktisch ins Gefängnis gesteckt. Derartige Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert sind keineswegs erfreulich. Ich bin 1952 (Gnade der späten Geburt) geboren und kenne das Ganze nur aus der Erzählung meines Vaters und meiner Familie. Man muss schon auch diese Geschichte kennen, um zu verstehen, warum etwa die Menschen in meiner Heimat nicht „Deutsche“ genannt werden wollen.

„Deutsche Minderheit“ schockiert jeden, der das hört. Das ist eine bewusste Entscheidung:
Wir sind Deutschsprachige und keine Deutschen! Es gibt jetzt seit einigen Tagen eine ganz tolle Doktorarbeit1, die ich diese Nacht gelesen habe. Das Dokument hat mir entgegen der ursprünglichen Absicht den Schlaf geraubt und ich blieb die Nacht bis halb vier auf, aber ich bin sehr froh, es gelesen zu haben.
Es handelt sich um eine ganz sensationelle Geschichte: Es ist die erste Untersuchung, die im Rahmen einer Doktorarbeit zum Thema Sprachenkonfliktforschung über die Einstellungen der
deutschsprachigen Belgier und der restlichen Belgier über die Deutschsprachigen durchgeführt worden ist und die uns noch lange beschäftigen wird. Darin wird z.B. die Frage gestellt: Wohin wollen die Deutschsprachigen, wenn Belgien auseinander bräche?, was nur eine theoretische Frage ist. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht der Fall sein wird, aber es ist einmal interessant, die Meinungen der Menschen zu hören. Darin entscheidet sich die Mehrheit der Deutschsprachigen für Luxemburg. Es folgen die Optionen Wallonie, ein eigenständiger Staat à la Liechtenstein und zum Schluss Deutschland!
Ganz unabhängig davon, dass wir die besten Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland, zu Österreich, zur Schweiz und zu allen deutschsprachigen Regionen in Europa haben, möchten nur wenige zurück zu Deutschland! Genauso wenig möchte irgendjemand als Wallone angesehen werden – was manche Wallonen schon beabsichtigen, indem sie manchmal versuchen, den Begriff „deutschsprachige Wallonen“ unters Volk zu bringen. An sich ist das eine absurde Behauptung.

1 Titel der Doktorarbeit: Sprachkonfliktforschung in Sprachkontaktgebieten : Die öffentliche Meinung zu Aspekten der Position der deutschsprachigen Belgier im belgischen föderalen System (Proefschrift voorgelegd tot het behalen van de graad van Doctor in de Taalkunde door Anneleen Vanden Boer (Vrije Universiteit Brussel, Katholieke Universiteit Leuven, Hogeschool- Universiteit Brussel)

So stehen die Menschen da mit ihrer Identität und sagen: Was sind Sie? Dann sagen sie: Deutschsprachige Belgier. Das ist so eine komische Antwort (mit Adjektiv und Substandtiv).
Wenn man dann fragt: Was ist die belgische Identität? Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, mit Ulrich Wickert, für die Deutsche Nationalstiftung in Berlin an einer großen Diskussion teilzunehmen und wurde dort als erster gefragt: Erklären Sie mal die belgische
Identität! Das ist nicht so einfach. Daraufhin habe ich gesagt: Ich kann noch eine viel tollere
Frage stellen: Wie spricht man belgisch?

Belgien ist ein sehr spezieller Kontext. Warum erwähne ich das alles hier? Weil das nämlich die zweite historische Rahmenbedingung ist, die von allergrößter Bedeutung ist. Die erste war der Versailler Vertrag. Ohne diesen Vertrag wäre dieses Gebiet jetzt die ruhigste Ecke in Deutschland, zirka 700 Kilometer von Berlin entfernt, hinter Aachen und Monschau in der Eifel. Stellen Sie sich einmal vor, welche Chance ich hätte, Ministerpräsident in Deutschland zu werden… (Gelächter)… trotz den tollen Worten, die Sie eben für mich hatten.

Die zweite Besonderheit ist eben dieses Belgien. Belgien ist ein Vielvölkerstaat. Ein Staat, der immer vom Konflikt Flamen/Frankophone geprägt war, der auch in Zukunft von diesem Konflikt geprägt sein wird. Es sind sozusagen die „unzertrennlichen Feinde“, die zusammenleben. Sie werden auch weiter zusammen leben, weil nämlich – trotz allerSchwierigkeiten – das Zusammenleben zu gestalten, eine Trennung noch unvergleichbar komplizierter wäre. Darin besteht der große Unterschied der Situation zur ehemaligen Tschechoslowakei. Warum? Weshalb? Das könnte ich jetzt stundenlang erklären, das wäre aber weit über die vorgesehene Redezeit hinaus.

Die Belgier werden auch in Zukunft zusammenleben. Sie werden sich erneut zusammenraufen. Sie haben deshalb auch diese hohe Kompromissfähigkeit entwickelt, mit sehr komplexen Dingen. Der Belgische Kompromiss ist ein Kultobjekt. Man streitet sich ausgehend von Positionen, die total unvereinbar sind. Man streitet sich lange (mit Höhen und Tiefen). Es hat sogar etwas Liturgisches. Das ist fast wie so eine orthodoxe Osterfeier. Ich habe das schon einmal miterlebt. Das ist mir einmal passiert, ich saß auch noch genau neben dem Metropoliten und musste sitzen bleiben. Stunden und Stunden, hin und her, Höhen und Tiefen, irgendwann kommt eine Lösung. Die ist kompliziert, keiner versteht sie so ganz, damit auch keiner das Gesicht verliert, aber fundamental und das ist der entscheidende Elchtest sozusagen, wenn es ein Mercedes wäre: Es funktioniert! Genau das ist Belgien, so wie es effektiv funktioniert, hier und heute. In dieses Belgien hinein gehört die Deutschsprachige Gemeinschaft.

Die zweite historische Bedingung für das jetzige Statut der deutschsprachigen Minderheit ist die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat, nicht in irgendeinen Bundesstaat, sondern in einen Bundesstaat, der sehr stark von dissoziativen und konföderalen Elementen geprägt ist, der auch zu einer sehr komplexen Gestaltung der Landesebene geführt hat mit einer Zweigliedrigkeit (Regionen und Gemeinschaften) und mit asymmetrischen Aspekten vielfältiger Art. Es ist auch ein Bundesstaat, der auf dem Wege zu einer vereinfachten Formel ist. Gerade in den letzten Monaten und Wochen hat sich da vieles in die Richtung hinein bewegt, die wir als Deutschsprachige seit eh und je wünschen.

Wir wünschen uns einen belgischen Bundesstaat mit vier Bundesländern (Flandern, Wallonie – das ist evident – Brüssel – das ist viel komplizierter, aber notwendig – und dann die deutschsprachige Minderheit, als der vierte Bestandteil). Das heißt natürlich nicht, dass alle vier die gleiche Macht haben im Land. Wir wollen mit 0,7% der belgischen Bevölkerung nicht den Kurs angeben, aber wir wollen mit am Tisch und nicht irgendwo am Katzentisch sitzen.
Wir wollen schon gar nicht zwischen den Räderwerken der Konflikte zwischen Flamen und Wallonen zermalmt werden.

Wir haben jetzt fast 40 Jahre Erfahrung mit Autonomie. Die hat uns in diese Richtung bestärkt, auch als kleinerer Partner sind wir, wie wir sagen, bereit, gewillt und in der Lage, in dem Belgien von morgen alle Zuständigkeiten wahrzunehmen, die man in Belgien, nach dem Kompromiss zwischen Flamen und Wallonen, den Gliedstaaten (wie immer sie heißen mögen) übertragen wird.
So ist das heutige Statut der deutschsprachigen Minderheit in Belgien das Ergebnis von zwei historischen Entwicklungen, auf die die Menschen selbst keinen Einfluss haben (Versailler Vertrag und die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat).

Das Autonomiestatut hat drei Dimensionen: Einerseits die Autonomie an sich. Woraus besteht die Autonomie? Das ist das wichtigste Thema. Das zweite Thema ist: Wie wird die Minderheit dort vertreten, wo sie nicht autonom ist (im belgischen Parlament, im belgischen Senat, im Europaparlament). Da gibt es noch viele Dinge, die verbessert werden müssen. Die dritte Dimension ist: Wie geht man mit der Sprache in Belgien um? Wie wird die deutsche Sprache respektiert? Wie kann man sie im Verwaltungsbereich gebrauchen? Welche Pflichten hat der Staat den deutschsprachigen Bürgern gegenüber? Das sind die drei Dimensionen. Auf allen drei Dimensionen gibt es bedeutende Errungenschaften, aber auch noch bedeutende Dinge, die zu verbessern sind.

Ich möchte zum Schluss etwas zur Deutschsprachigen Gemeinschaft sagen, aus dem Gesichtspunkt ihrer Alleinstellungsmerkmale, diese „Unique-selling-points“, die immer wichtig sind, wenn ich eine Region positionieren will auf der europäischen oder weltweiten Landkarte. Die Deutschsprachige Gemeinschaft, hier und heute, ist aus der Entwicklung, die die Geschichte bestimmt hat, eine Region mit sehr interessanten Zukunftsperspektiven und das, weil sie drei Alleinstellungsmerkmale hat, die in ihrer Kombination etwas sehr Außergewöhnliches sind.

Was sind diese drei Alleinstellungsmerkmale? Erstens: Sie ist eine nationale Minderheit im Sinne der Europarats-Konvention zum Schutze nationaler Minderheiten, die Belgien eigentümlicherweise noch gar nicht ratifiziert hat. Das ist noch ein anderes Thema. Darüber kann man ebenfalls stundenlang diskutieren. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist eine nationale Minderheit. In Belgien ist es eigentlich so, dass jeder eine Minderheit ist. Deshalb ist es auch unmöglich, sich zu einigen, wer die eigentliche Minderheit ist.

Die Deutschsprachigen sind natürlich eine Minderheit (0,7% der belgischen Bevölkerung, historisch hinzugekommen nach dem Ersten Weltkrieg); die Französischsprachigen sind mittlerweile in Belgien eine Minderheit, aber sie wissen es manchmal noch nicht und benehmen sich immer noch so, als ob sie die Mehrheit wären; die Flamen sind schon lange die Mehrheit, aber sie haben immer noch Reaktionen und Reflexe, als ob sie die früher unterdrückte flämische Minderheit wären. Das alles zusammen, macht aus dem Ganzen schon ein ziemlich heftiges Cocktail, denn der Hauptkonflikt ist ja zwischen zweien, die dazu noch so eine Altlast im Rücken haben, wie die ich gerade gesagt habe, und es ist wie im normalen Leben. Es ist viel schwieriger sich zu zweien zu einigen, vor allem, wenn es ein Partner ist, als beispielsweise zu 16 deutschen Bundesländern oder 9 österreichischen Bundesländern oder 26 Schweizer Kantone.

Deshalb ist alles in Belgien sehr bipolar und konfliktuell. Wir müssen als Deutschsprachige aufpassen, dass wir da nicht zermalmt werden. Wir müssen uns auch davor hüten, der lachende Dritte oder der Schiedsrichter sein zu wollen. Deshalb müssen wir unsere Stellung als Minderheit nie aus den Augen verlieren, so viel Autonomie wir auch haben möchten. Zweite Besonderheit. Wir sind das, was ich einmal mit einem Mitarbeiter als Kleingliedstaat bezeichnet habe (Wir haben viele Publikationen veröffentlicht und wir versuchen dieses Wort jedes Mal sehr oft zu platzieren, denn je öfter man einen Begriff platziert, in wissenschaftlichen Texten, je mehr hat man Chancen, dass er akzeptiert wird). Wir betrachten uns also als „Kleingliedstaat“. Woher kommt der Begriff? Das ist eine Kombination zwischen Kleinstaat und Gliedstaat. Es gibt ja eine Kleinstaatenforschung, in diesem sehr schönen Zentrum in Liechtenstein, wo man – wenn man auf der Terrasse steht und das ganze Land überblicken kann. Und es gibt den Begriff der „Gliedstaaten“. Dieser ist ja bekannt als Oberbegriff für alle Arten von Kantonen, Provinzen, Ländern, die es im Föderalismusbereich gibt. Das Problem ist nur, dass bei der Kombination „Kleingliedstaat“ viele Menschen eigenartigerweise erotische Phantasien haben. Das hat uns eine Zeit lang einmal bewogen, den Begriff fallen zu lassen, aber im zunehmenden Alter habe ich gesagt:
„Nein, gerade weil das diese Phantasien weckt, ist dieser Begriff so sexy, also werden wir ihn auch aufrecht erhalten.“

Jetzt aber etwas ernster … Was ist das Interessante an dieser Kleingliedstaatlichkeit? Es ist die Möglichkeit, sehr hochrangige staatliche Zuständigkeiten, in Form von Gesetzgebungshoheit, mit Parlament, Regierung und Unterbau, auf einem kleinen Gebiet für eine kleine Bevölkerungszahl wahrzunehmen. Das ergibt die Möglichkeit, Politikgestaltung auf eine sehr realitäts- und bürgernahe Art und Weise zu betreiben. Es gibt auch die Möglichkeit, besondere Formen der Bürgerbeteiligung zu testen. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit wir aus dem Schweizer Modell lernen können?

Es gibt jedoch auch Schwächen. Die Schwächen sind die fehlenden Skaleneffekte. Es gibt eine Reihe von Dingen, die man nur realisieren kann, wenn man eine gewisse Größe hat. Mit dieser Schwäche muss man fertig werden. Das ist die große Herausforderung, die das Regieren in meiner Heimat mit sich bringt. Es gibt aber Antworten darauf, mindestens fünf, die werde ich hier aber jetzt nicht weiter vertiefen, weil mir die Zeit noch mehr wegläuft.

Das dritte Alleinstellungsmerkmal ist ein sehr spannendes, gerade in der Kombination mit den zuvor Erwähnten. Das ist die Eigenart der Grenzregion: Das deutschsprachige Gebiet in Belgien ist eine Grenzregion mit sehr spannenden Nachbarn: Die ganze belgische Vielfalt, die südlichen Niederlanden, das Großherzogtum Luxemburg als Kleinstaat auf der Welt… Der Premierminister Jean-Claude Junker ist übrigens sehr oft in Peking und er wird nie dort ausgeladen, weil Luxemburg nur 0,0003% der chinesischen Bevölkerung ausmacht. Also habe ich kein Problem zum meiner Kollegin nach Nordrhein-Westfalen zu gehen oder zum Flämischen Ministerpräsidenten. Ich habe überhaupt keine Komplexe, wenn ich unterwegs bin; und hinzu kommt auch noch die deutsche Nachbarschaft, mit zwei interessanten und sehr verschiedenen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz). Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat sich zu sehr intensiven Strukturen entwickelt, wo wir auch sehr aktiv mit dabei sind: Die Euregio Maas-Rhein einerseits, um das Städtedreieck Lüttich, Maastricht und Aachen. Der Sitz der Euregio Maas-Rhein ist mittlerweile in Eupen; das haben wir in einer subtilen politischen Operation irgendwann einmal geschafft. Die sitzen übrigens genau neben meinem Büro. Ich habe genau 8 Meter Weg bis zum Büro des Direktors der Euregio Maas-Rhein, was nicht ganz unwichtig ist. Dass er ein ehemaliger Ministerkollege von mir ist, ist ebenfalls nicht unwichtig, aber das ist eine andere Geschichte.

Die Großregion Saar-Lor-Lux ist auch ein Ort, in dem wir sehr eng zusammenarbeiten, allerdings ist diese Großregion schon eher das, was man eine Makro-Region nennt, mit zwei deutschen Bundesländern (Rheinland-Pfalz und Saarland), mit der Französischen Region Lothringen – sehr spannend, zwei Bundesländer mit einer Französischen Region zusammenarbeiten zu lassen, vor allem mit einer, die noch nicht die selbe Identitätsdimension hat wie Elsass – mit Belgien (Wallonie und Deutschsprachige Gemeinschaft) und dem Großherzogtum Luxemburg als Staat. Wirklich eine sehr spannende Geschichte.

Eigentlich ist die Zukunft der Deutschsprachigen Gemeinschaft eine Kombination zwischen dieser interessanten Situation im belgischen Vielvölkerstaat, als Minderheit, die gleichzeitig das Statut einer gliedstaatlichen Einrichtung hat, ein Bundesland ist, der Kleinheit, wo man viele Schwächen der Kleinheit durch Zusammenarbeit, gerade durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit, aushebeln kann. Das ist das Grundkonzept, das unserer Arbeit zugrunde liegt.
Deshalb macht es eigentlich sehr viel Spaß. Ich hoffe, Sie etwas von diesen Schilderungen mit. 20 Jahre lang in dieser Region Minister zu sein und 10 Jahre jetzt Ministerpräsident, es entspricht aber auch der tiefen Überzeugung, dass Minderheiten ein Reichtum für Europa sind, genau wie es ja das Thema Ihrer Veranstaltung hier auch sagt, ebenso wie eine Herausforderung. Ein Reichtum, weil nämlich Vielfalt etwas ist, was man nicht nur in einen Artikel des Lissabon-Vertrages hinein schreiben kann, wenn man es ernst meint, sondern man muss es auch konkret leben. Die Minderheiten sind der ultimative Test dafür, ob das Thema der Vielfalt kein Lippenbekenntnis ist.

Eine Herausforderung ist das Ganze ohnehin, denn Europa muss in dieser Vielfalt zusammenwachsen. Europa hat unwahrscheinlich viele Grenzen. Das fällt vor allem auf, wenn man die Weltkarte flach legt und sieht, wie viele Grenzen in Europa sind und wie das anderswo sehr viel großmaschiger ist. Wenn wir von Zusammenhalt, von Kohäsion reden, dann müssen wir wissen, dass in der Politik ein physisches Gesetz gilt: Ein Ganzes ist immer nur so stark, wie die schwächste Nahtstelle. Je mehr Grenzen ich habe, je größer ist die Gefahr, dass irgendeine Nahtstelle nicht richtig zusammenhält. Im Falle eines Konfliktes ist dann dort die Stelle, an der die Sachen auseinanderbrechen.

Deshalb sind die grenzüberschreitenden Kooperationen so wichtig. Gerade da, wo es auch noch in Grenzregionen Minderheiten-Situationen gibt, die oft etwas damit zu tun haben, dass man diese Grenzen nicht immer freiwillig geändert hat, in der Geschichte, da ist es besonders spannend. Genau in einer solchen Region lebe und arbeite ich. Deshalb behaupte ich, dass Grenzregionen – speziell solche mit Minderheiten – wirklich sehr interessante Laboratorien und auch ein sehr wichtiger Motor für die weitere europäische Integration ausmachen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!