Reden

Rede anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des 11. Eschweiler Europaforums organisiert vom EUROPAVEREIN GPB e.V.


Rede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, zum Thema: „Belgien verstehen – eine historische und politische Betrachtung“ anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des 11. Eschweiler Europaforums organisiert vom EUROPAVEREIN GPB e.V. (Gesellschaftspolitische Bildungsgemeinschaft)

Donnerberg-Kaserne Eschweiler, 12. Mai 2011

Reden-2011-05-12-Belgien Verstehen Europaverein GPB Eschweiler (188.0 KiB)

Herr General,
Herr Kasernenkommandant,
Eminenz,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Sie sind heute Abend hier zu dieser Veranstaltung – ich würde schon fast sagen – gelockt worden, mit dem Hinweis auf geschichtsträchtige Seebäder, Schokolade, Pommes Frites, Spitzen, Chicorée und Bier. Na ja, ich hoffe, dass ich Sie diesbezüglich nicht enttäuschen werde. Der Versuch, den Staat Belgien zu erklären und dazu beizutragen, dass jeder nachher nach Hause geht und ihn versteht oder zumindest den Eindruck hat, ihn verstanden zu haben, lässt sich nicht auf Pommes, Spitzen und Bier reduzieren.

Ich mache das jedoch auch sehr gerne, gerade hier an diesem Ort, der ja 1946 von Belgiern erbaut und der im Jahre 1958 definitiv unter deutsche Verwaltung gestellt wurde. 1958 ist auch das Jahr, in dem der Prozess beginnt, über den ich Sie heute Abend hier informieren möchte, nämlich den sehr spannenden und keineswegs so oft anzutreffenden Prozess des Umwandelns eines Einheitsstaates, der Belgien bis zu dem Zeitpunkt war, in einen Bundesstaat.
In der Regel verläuft diese Umwandlung in der umgekehrten Reihenfolge. Unabhängige Staaten nähern sich an und bilden schließlich einen Bundesstaat – was u.a. prototypisch aus der Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft hervorgeht. Der deutsche Föderalismus hat geschichtlich bedingt im zweiten Teil des 20. Jahrhunderts eine etwas andere Ursprungsentwicklung gehabt. Dass man einen Staat von einem Einheitsstaat in einen Bundesstaat umorganisiert, geschieht eher selten; besonders selten, wenn in diesem Staat im Wesentlichen zwei Sprachgruppen miteinander auskommen müssen. Die geschichtlichen Vorbilder sind alle nicht besonders erfolgreich gewesen. Wenn man vergleichen möchte, könnte man auf die Tschechoslowakei hinweisen; man kann sich auch Zypern etwas näher anschauen; auch in Ex-Jugoslawien gibt es vergleichbare Themen wie in Belgien. Zu all diesen Dingen hat Belgien nicht nur einige Parallelen, sondern auch und vor allem einen ganz wichtigen Unterschied: das, was in den letzten 40 Jahren bisher in Belgien geschehen ist, ist eine erfolgreiche Geschichte.

Ich bin persönlich überzeugt, dass das auch in Zukunft sein wird, auch wenn wir uns augenblicklich in einer äußerst delikaten und schwierigen Phase befinden. Dieses „augenblicklich“ können wir sogar sehr wörtlich nehmen. Der mit einem Formationsauftrag und Verhandlungsauftrag beauftragte Politiker Wouter Beke ist vor einigen Stunden vom König empfangen worden und hat seinen Auftrag beendet. Unser Staatsoberhaupt sondiert zurzeit die Lage mit den Vorsitzenden der beiden Parteien, die die letzten Wahlen 2010 gewonnen haben. Vielleicht gibt es im Laufe des Abends noch einen Anruf aus Brüssel und ich kann all das, was ich Ihnen sage, in den Papierkorb schmeißen und muss Ihnen eine andere Rede halten. Ich werde versuchen so kurz zu sein, damit diese Gefahr sich auf ein Minimum reduziert.

Belgien ist ein Land voller Vielfalt, ein sehr kleines Land, bedeutend kleiner als China, aber gerade mal halb so groß wie Nordrhein-Westfalen. Groß und klein in der Staatenwelt und in der Welt der Gliedstaaten oder Bundesländer – oder wie man es immer nennen mag – das ist etwas Schicksalhaftes. Man kann nur jedem dringend davon abraten, etwas an seiner Größe ändern zu wollen. Das gilt übrigens für jeden einzelnen von Ihnen. Die einzig bekannte Methode, die mir als wirkungsvoll in Erinnerung geblieben ist, um die Größe eines Menschen anders als durch normales Wachstum zu ändern, sind die Foltermethoden des Mittelalters. Ich glaube nicht, dass das besonders angenehm ist.

Wenn wir über Gebietskörperschaften reden, ist es besonders problematisch über territoriale Veränderungen zu sprechen. Das kann man meistens nur, wenn man außergewöhnliche Umstände kennt oder wenn man eine starke Armee im Rücken hat. Nun hier sind wir nicht weit davon entfernt. Ich denke selbst die Tatsache, dass wir uns auf einem militärischen Gebiet befinden, wird uns nicht dazu verleiten, irgendwie irgendwelche territorialen Veränderungen vorzunehmen. So etwas geschieht nur selten. Was meine Heimat, Ihr unmittelbares Nachbargebiet, die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, betrifft, war dieser außergewöhnliche Moment der Versailler Vertrag von 1919, der 1920 in Kraft getreten ist und der aus den Menschen, die auf diesen 854 km2 wohnen, über Nacht Belgier gemacht hat, während sie vorher noch Deutsche waren.

Groß und Klein ist eben etwas Vorgegebenes. Es gehört zur Geschichte. Man soll, meine ich, am besten nicht allzu sehr versuchen, daran etwas zu ändern, selbst diejenigen, die versucht haben, die Zahl der deutschen Bundesländer zu reduzieren, sind bisher dabei immer kläglich gescheitert. Ich selbst habe den Tag der Volksabstimmung in Brandenburg miterlebt, vor einigen Jahren, als der letzte bisher stattgefundene Versuch scheiterte, Berlin und Brandenburg zu vereinen. Ich war damals in Eisenhüttenstadt, habe das selbst miterlebt und glaube, dass so schnell keiner mehr versuchen wird, die Grenzen zu ändern, selbst nicht die innerdeutschen Grenzen zwischen den Bundesländern.

Was möchte ich damit sagen? Staaten und auch die Gliedstaaten, wenn man von Bundesstaaten redet, haben ihre Geschichte, ihre Situation, die sehr spannend zu entdecken ist: „Wie funktioniert das Ganze?“ Um das zu entdecken, muss man zuerst natürlich wissen, „wieso die Dinge eigentlich so sind, wie sie sind?“ „Woher kommt das Ganze?“ – das ist gerade im Fall Belgien sehr wichtig. Man hört seit vielen Jahrzehnten immer wieder sehr viel, auch hier im benachbarten Deutschland, über Konflikte zwischen Flamen und Frankophonen in Belgien. Mittlerweile werden auch Sie wahrscheinlich wissen, dass seit Juni vergangenen Jahres in Belgien keine voll funktionstüchtige föderale Regierung besteht.

Ich möchte keine allzu große Prognose wagen, aber ich habe das Gefühl, dass wir auch noch ein paar Wochen warten werden, ehe diese da ist. Dennoch funktioniert das Land… eigentlich gar nicht so schlecht, auch wenn das natürlich kein Dauerzustand sein kann. Wenn man begreifen möchte, was hier und heute in Belgien geschieht, muss man sich ein bisschen mit der Geschichte Belgiens, vor allem mit der Geschichte der letzten vier Jahrzehnte auseinandersetzen. Und nun kommen wir zum famosen Jahr 1958.

Damals wurde im belgischen Parlament ein 400seitiger Bericht hinterlegt, von einem parlamentarischen Studienzentrum, das im April 1946, genau 12 Jahre vorher, eingerichtet worden war und dessen Auftrag darin bestand, Lösungen für die Konflikte zwischen Flamen und Frankophonen zu finden. Also neu ist das Thema nicht. Eigentlich ist es übrigens so alt wie Belgien selbst. Der Bericht dieses Zentrums war eigentlich der Startschuss in die Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat, die ab 1970 richtig begonnen hat.

Nach diesem Bericht des Harmel-Zentrums, benannt nach dem Vorsitzenden und späteren belgischen Außenminister, hat man in Belgien eine wichtige Entscheidung getroffen und die Sprachgrenzen eingeführt. Das Land wurde in Sprachgebiete eingeteilt. Das ist die Grundlage der weiteren Entwicklung. Im Laufe der 70er Jahre hat man beschlossen, die Instrumente des Föderalismus – den es ja in Europa und weltweit in vielen Staaten gibt (die europäischen Staaten sind ja im Wesentlichen Deutschland, Österreich und Schweiz) – ebenfalls anzuwenden. Die Belgier, die bis zu dem Zeitpunkt noch in einem Einheitsstaat lebten, in dem alles zentral in Brüssel beschlossen wurde, waren der Meinung, dass man Konflikten entgehen kann, wenn man bestimmte Aufgaben aufteilt und autonom regelt. Und so fing jedoch die Geschichte an: Was machen wir mit Brüssel?

Wenn alle Themen abgehakt waren, fiel dem einen oder anderen auch noch ein: „Ah ja, da gibt es ja auch noch im Osten des Landes, an der deutschen Grenze, um das Hohe Venn herum, die ‚Neubelgier’, diejenigen, die 1920 hinzugekommen sind und die immer noch Deutsch sprechen, selbst nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Man hat also beschlossen, einen Bundesstaat entstehen zu lassen, dessen wesentliches Ziel darin besteht, Konflikte abzubauen, Reibungsflächen verschwinden zu lassen und die Zusammenarbeit dieser verschiedenen Bestandteile zu ermöglichen. Dieses Experiment, das 1970 startete, hat zu einem Modell der fünf Etappen geführt, einem Modell, das man ab und an weiterentwickelt hat. Seit 2001 – in dem Jahr fand die bisher letzte Etappe – versucht man eine weitere sechste Etappe zu erreichen; dies weil auch nach den bisherigen Reformen nicht von einem wirklichen zufriedenstellenden Ergebnis die Rede sein kann – zumindest nicht aus der Sicht aller Beteiligten. Diese „Sicht“ ist eines der großen Probleme. Es gilt nicht nur das Land zu reorganisieren, es gilt ständig einen Kompromiss zu finden, zwischen Vorstellungen über den belgischen Staat, die bei den Flamen und den Frankophonen sehr unterschiedlich, teilweise sogar unvereinbar, sind. Da ist auch das entstanden, was ich immer sehr gerne als ein „High-Level-Produkt“ der belgischen Kreativität bezeichne, sozusagen die „Formel-1“ des Verfassungsrechtes: Der belgische Kompromiss.

Um die Geburtsstunde des Föderalismus zu erleben und schlussendlich eine Einigung zu finden haben die Belgier eine hohe Kunst des Kompromisses entwickelt, der man sogar etwas Liturgisches abgewinnen kann. Ein belgischer Kompromiss – den treffen wir immer wieder an in dieser Geschichte der 5 Etappen und der findet auch augenblicklich wieder statt -, nur wissen verschiedene vielleicht noch gar nicht, dass sie mitten in einem solchen Prozess stehen, hat einige Besonderheiten. Er führt zu Dramatisierung, zu großen Worten und heftigen Auseinandersetzungen, die wieder relativiert werden. Das Ganze dauert immer sehr lange.
Das hat schon einen fast liturgischen Ablauf, besonders wenn man die orthodoxen Osterfeierlichkeiten kennt, weiß man ja, dass die sehr lange dauern. Die belgische Kompromisssuche dauert auch immer sehr lange. Am Ende folgt ein kompliziertes Ergebnis.
Etwas, wo eigentlich niemand so richtig behaupten kann, er hätte es verstanden. Dadurch gibt es auch keinen, der das Gesicht verloren hat, denn jeder hat ein bisschen Recht bekommen. Ein wirklich echter belgischer Kompromiss hat noch eine Besonderheit: Keiner versteht so genau, worum es geht, aber das Ganze funktioniert! All diese Dinge hinzukriegen, ist gar nicht so einfach.

Das haben die Belgier bisher zumindest fünfmal beim Umbau ihres Staates in einen Bundesstaat geschafft. Sie sind jetzt dabei, mit all den Erfahrungen der Vergangenheit, einen sechsten Anlauf zu machen. Der dauert jetzt schon fast ein Jahrzehnt. Wir können davon ausgehen, dass irgendwann der Abschluss kommt. Man kann diese Entwicklung auch noch anders vergleichen: wenn man schon von der Geburt eines Bundesstaates spricht, dann ist es logisch zu hoffen, ja sogar davon auszugehen, dass dieser Bundesstaat irgendwann auch einmal erwachsen wird. Er kann nicht ewig in der „Pubertät“ stecken bleiben. Man kann eigentlich davon ausgehen, dass das, was jetzt, bei den schwierigen anstehenden Verhandlungen herauskommt, eben dieses Erwachsenwerden ist. Das wäre für eine solche Veränderung wie die des Umwandelns eines Staates vom Einheitsstaat zum Bundesstaat, keineswegs eine allzu lange Zeitspanne.

Wenn man das individuell für das eigene Leben betrachtet, mögen vierzig Jahre zwar sehr viel erscheinen, aber für die Entwicklung eines Staatsmodells sind vierzig Jahre eigentlich sehr wenig. Föderalismusreformen brauchen immer wieder Zeit. Das ist keine belgische Eigenart.
Wenn Sie sich ein wenig daran erinnern, wie die Föderalismusreformen I und II in Deutschland in den letzten Jahren vorbereitet und umgesetzt wurden, werden Sie auch gemerkt haben, dass man jeweils jahrelang verhandelt hat und dann zu einem Ergebnis kam.

Die bedeutendste Reform war die von 2006 (Föderalismusreform I). Ob die alles vereinfacht hat, weiß ich nicht, aber das ist jetzt nicht mein unmittelbares Problem. Nur etwas war darin genial: Kein Mensch hat gemerkt, dass sie beschlossen wurde. Warum? Weil man sie im Windschatten der Fußballweltmeisterschaft im Deutschen Bundestag und -rat verabschiedet hat. Bei der Föderalismusreform II war es ein bisschen anders. Da musste es etwas schneller gehen, da standen nämlich 2009 Wahlen ins Haus. Es war sehr überraschend, dass sie schlussendlich zustande kam.

Wird das, was in dieser Föderalismusreform umgesetzt wurde – etwa die Schuldenbremse für die Länder – wirklich ohne weitere Reform 2020 in Kraft treten? Warten wir einmal ab… ich hoffe zumindest, dass die belgischen Fragen bis dahin geklärt sind. Aber es geht noch besser oder noch länger… in der Republik Österreich hat man 1992 einen Verfassungskonvent eingerichtet zur Novellierung der österreichischen Verfassung. Dort ist, wie man wohl auf österreichisch sagen würde „bis heuer“ immer noch kein Ergebnis zustande gekommen. Man braucht also Zeit…

Die Belgier haben jetzt etwas geschaffen, was man nun wirklich eine „Mission impossible“ nennen muss. Sie haben aus präzisen Gründen, die ich Ihnen noch erklären werde, gesagt, wir koppeln die Verfassungsreform (die Föderalismusreform) an die Bildung einer Bundesregierung oder anders herum: Es gibt keine neue Bundesregierung solange nicht die Verfassungsreform fertig ist. Das ist ein gewagtes Unterfangen!

Warum ist das überhaupt so? Es ist deshalb so, weil der Wunsch nach mehr Reform bei den Flamen schon seit mindestens 2001 besteht, eigentlich schon seit 1999. Die Frankophonen haben aber die Flamen ausgebremst. Da in Belgien eine Staatsreform nur per Konsens erfolgen kann (da müssen sowohl 2/3 der Parlamentarier als auch die französische und die flämische Sprachgruppe einverstanden sein), kann man viel leichter blockieren als Bewegung herbeiführen. Das ist ein physikalisches Gesetz, was in der Politik eine ganz große Rolle spielt: „Was geschieht, wenn nichts geschieht?“ Da die Flamen diese Situation ein halbes Jahrzehnt erdulden mussten und zunehmend das Verständnis verloren, haben sie 2007 den Schlussstrich gezogen und erklärt, dass sie keine Regierung mehr ohne eine Einigung über die Staatsreform entstehen wird. Das ist von 2007- 2010 in sehr turbulenter Art und Weise zelebriert worden. Man hat trotzdem eine Regierung bilden müssen, sozusagen aus Sachzwängen, u.a. wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise. 2010 ist dasselbe dann noch einmal passiert, ohne dass die Föderalismusreform verabschiedet war. Doch dann haben die Flamen die Bildung einer Regierung endgültig blockiert.

Wieso ist das überhaupt möglich? Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund. Wenn Sie heute Abend nichts anders behalten, sollten Sie das vielleicht behalten: In Belgien gibt es keine Bundesparteien! Das können Sie sich, glaube ich, gar nicht vorstellen. Das wäre so wie wenn die Situation der CSU in Bayern dort fünfmal bestünde, in jeder ideologischen Tendenz, man das Ganze mal sechzehn multiplizierte und dann dieser Schar von Parteien sagte, nun bildet einmal eine Bundesregierung! Das kann man sich echt nicht vorstellen. In Belgien ist das aber so! Die Parteienlandschaft ist auf die Regionen fixiert. Die politische Macht im Land liegt nicht auf Bundes-, sondern auf gliedstaatlicher Ebene. Es sind diese regionalen Parteien, die – auch wenn sie denselben ideologischen Tendenzen Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne angehören – durchaus unterschiedliche Auffassungen haben und auf jeden Fall nirgendwo eine gemeinsame Spitze besitzen. Da gibt es keinen Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin oder Parteivorsitzende, der da mal „Basta!“ sagen kann. Es sind völlig unabhängige Parteien, die sich zusammensetzen und versuchen müssen, eine Bundesregierung zu bilden. Die haben aber nach den fünf Etappen des bisherigen belgischen Umwandlungsprozesses bereits in ihren jeweiligen Regionen sehr viele Zuständigkeiten schon in eigener Verantwortung.

All das, was die Menschen wirklich im tagtäglichen Leben betrifft, ist schon seit langem in Belgien keine Bundes-, sondern eine Landesangelegenheit. Die belgischen Bundesländer, die Regionen und Gemeinschaften heißen, (warum es diese zwei Arten gibt, werde ich noch versuchen auch näher zu bringen), funktionieren seit 2009 in ihrer normalen Legislaturperiode völlig üblich bis 2014, dann ist die nächste Wahl, immer gemeinsam mit den Europawahlen. Im Gegensatz zu Deutschland finden alle Landtagswahlen in Belgien am selben Tag statt.
Deshalb merken die Menschen in Belgien eigentlich auch gar nicht so sehr, dass sie keine voll funktionstüchtige Bundesregierung haben, weil eben die Bundesländer sehr gut funktionieren und ganz normal konstituiert sind. Es sind diese regionalen Parteien, die auch im belgischen Bundestag sitzen, die jetzt der alten Regierung, die noch aus den vorigen Wahlen hervorgegangen ist, erlauben, laufende Geschäfte zu führen und Entscheidungen zu treffen, die man normalerweise im Verfassungsrecht nicht mehr als laufendes Geschäft ansieht, wie so „Kleinigkeiten“ wie dem militärischen Eingriff in Libyen, den Haushalt 2011 oder die Entscheidung im Rahmen des europäischen Semesters über den Haushalt und so weiter und sofort. Viele Entscheidungen werden bereits vom belgischen Parlament und von der alten Regierung ausgeübt, aber das kann so lange funktionieren wie die Parteien, die in den Ländern die Macht haben.

So ganz ungewöhnlich ist das auch nicht. Denn in diesem Fall bekommt das Parlament, das im Juni 2010 gewählt wurde, natürlich sehr viel mehr Macht. Dort gibt es aber keine Mehrheit, die mit ihren Regierungsvorschlägen durchmarschiert, sondern man muss für alle Vorhaben eine Mehrheit finden. Das könnte ein wenig an eine Minderheitsregierung erinnern, was es ja auch schon einmal anderswo in Europa in gewissen Staaten gibt. In den Niederlanden haben wir sogar eine ganz spezifische Situation, wo eine Minderheitsregierung ist, die von einer doch sehr populistischen rechtslastigen Partei polarisiert wird. Wenn ich nicht ganz falsch informiert bin, haben wir in Nordrhein-Westfalen auch eine Situation, in der keine klare parlamentarische Mehrheit vorhanden ist. Also so ungewöhnlich ist das alles nicht, was in Belgien passiert. Die Kombination all dieser Dinge macht die Lage schon etwas spannend. Vor allem für Beobachter, die nicht jeden Tag in diesem Durcheinander drin sind, kaum noch durchsichtig und transparent.

Nun, wir deutschsprachige Belgier beobachten das Ganze mit allergrößtem Interesse, denn jeder kleine Schraubenzug und –dreh am belgischen Föderalismusmodel hat unmittelbare Konsequenzen für unsere eigene Situation. Wir sind natürlich nicht so mächtig und so stark mit unseren 0,7% der belgischen Bevölkerung, dass wir jetzt den Leuten in Brüssel sagen können, so da geht’s lang, so habt ihr das zu machen, so hätten wir das gerne… so funktioniert das nicht!
Der Kompromiss in Belgien kann nur das Ergebnis einer Einigung zwischen Flamen und Frankophonen sein. Wir Deutschsprachigen versuchen möglichst nah an diesen Dingen dran zu sein und im richtigen Moment zu sagen, macht was ihr wollt mit diesem Staat, aber all das, was ihr für euch selbst als gut und richtig erachtet, hätten wir gerne auch. Das ist ein Argument, das versteht meistens jeder beim ersten Erklären und das funktioniert auch normalerweise.

Was sind nun die Besonderheiten des belgischen Föderalismus, die man noch kennen müsste, um sich einigermaßen in der belgischen institutionellen Landschaft zwischen der beliebten belgischen Küste und Nordrhein-Westfalen und der Ardennenlandschaft im Süden und Osten des Landes zurecht zu finden? Das werde ich versuchen Ihnen nahe zu bringen, indem ich das ganz einfach auf folgende Formel bringe: Belgien ist ein Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland ist auch ein Bundesstaat. Da ich genau weiß, dass Sie alle den deutschen Föderalismus perfekt kennen, kann ich mich darauf beschränken, zu sagen: Alles, was nicht anders ist als in Deutschland, ist genau so wie in Deutschland. Also werde ich mich darauf beschränken, kurz darauf hinzuweisen, was anders ist. Sie werden merken, dass eigentlich der belgische Föderalismus sehr viel einfacher und unkomplizierter ist als der deutsche. Ob Sie mir das jetzt glauben, glaube ich eigentlich nicht, aber ich werde versuchen, es Ihnen zu beweisen.

Warum ist der belgische Föderalismus so unvergleichbar einfacher gestrickt als der deutsche – außer in einem präzisen Punkt, auf den ich noch zu sprechen komme? Er ist deshalb so einfach gestrickt, weil er, wie ich eben sagte, der Versuch ist, Dinge aufzuteilen, Verflechtungen abzubauen und jeden Herrn bei sich zuhause währen zu lassen. Solche komplizierten Dinge wie etwa die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern; wie die konkurrierende Gesetzgebungshoheit des Bundes, die man 2006 für gewisse Bereiche noch besonders kompliziert gemacht hat, indem man sagte, dass die Länder zuständig sind und wenn der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungshoheit Gebrauch macht (es sei die Voraussetzung des Grundgesetzes für ein Eingreifen des Bundes), können die Länder trotzdem noch – wie etwa im Hochschulwesen – abweichende Landesgesetze dazu verabschieden. Das ist für einen Belgier verdammt kompliziert zu verstehen. Ich habe sogar Deutsche getroffen, die es nicht ganz verstanden haben. Das ist noch einfach…das, was bei Ihnen Alltag ist, dass nämlich ein Bundesgesetz immer, in der Regel, es sei denn das Grundgesetz sieht was anders vor, als eigene Angelegenheit, d.h. nur unter der Rechtsaufsicht der Bundesregierung von den Landesregierungen ausgeführt wird.
Im Klartext, dass jedes Bundesgesetz in der Regel sechzehn verschiedene Ausführungserlasse hat, zum Teil auch sehr unterschiedliche Praktiken kennt, das ist für belgische Verhältnisse völlig unvorstellbar. Da sind wir der Meinung, dass unser Modell, in dem man immer ganz klar unterscheiden kann, wer für welche Kompetenzen zuständig ist, besser. „Ist der Bund zuständig? – Sind die Länder zuständig?“, so lautet die Antwort: Ja oder nein! Bei den paar Streitigkeiten haben wir ein Verfassungsgerichtshof, der das klärt, wie Sie ja auch über ein solches Gremium verfügen.

Wenn aber eine Ebene für die Gesetzgebung zuständig ist, ist sie auch zuständig für die Ausführung. Es ist völlig undenkbar, dass ein Bundesgesetz in Belgien von einer Landesregierung ausgeführt wird. Es ist immer die Ebene, die die Gesetzgebungshoheit hat, die auch für die Ausführung zuständig sind. Die einzigen Behörden, die Gesetze von Bundesund Landesebene her zur Ausführung erhalten, sind die Kommunen. Die müssen für alle arbeiten, meistens noch nicht mit dem Geld, was sie eigentlich dazu bräuchten. Auch das scheint kein besonders belgisches Problem zu sein. Das geht sogar noch weiter… erlaubt mir dann immer wieder einen gewissen Neid bei meinen nordrhein-westfälischen Kolleginnen oder Kollegen als Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident zu erzeugen.

Wenn in Belgien eine Ebene für die Gesetzgebung zuständig ist, ist sie nicht nur zuständig für die Gesetzgebung und für die Ausführung, sondern auch für die internationalen Beziehungen, d.h. die Fähigkeit völkerrechtliche Verträge abzuschließen ist bei der Deutschsprachigen Gemeinschaft unvergleichbar größer als bei dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, denn NRW braucht immer die Zustimmung des Bundes. Wir brauchen lediglich Brüssel zu informieren, dass wir ein solches Vorhaben erwägen. Der Bund kann sich eventuell dazu äußern, aber das ist bisher in der gesamten Geschichte Belgiens noch niemals in einem einzigen Punkt für irgendein Bundesland geschehen. Wie gesagt… bei uns basiert alles auf Ausschließlichkeit der Zuständigkeiten. Das ist ein einfaches Modell.

In Deutschland sind die Verflechtungen gerade bei der Verwaltung sehr groß. Eines der Ziele der Föderalismusreform I bestand gerade darin, zu entflechten. In Belgien ist das kein Thema.
Da wird alles auf Ausschließlichkeit aufgebaut, damit die Reibungsflächen möglichst abgebaut werden. Wenn man sich anschaut, was in Belgien Bundes- und was Landesangelegenheit ist, wird man feststellen, dass das so grosso modo ähnlich ist wie bei Ihnen im Gesetzgebungsbereich (Kultur, Bildung, ein Teil der sozialen Angelegenheiten, Kommunalwesen, Raumordnung, energiepolitische Dinge, Umweltfragen) sind weitgehend Landesangelegenheiten und die klassischen staatlichen Attribute sind dann auf Bundesebene.
Das ist relativ simpel. Dann gibt es etwas das ist wirklich kompliziert. Das lässt so manche Beobachter verzweifeln. Da gibt es auch schon belgische Experten, die sich manchmal die Haare ausraufen.

Die belgischen Bundesländer heißen „Gemeinschaften und Regionen“. Übrigens im Sprachgebrauch für deutsches Vorverständnis relativ problematisch. Wenn Sie den Begriff „Region“ hören, denken Sie nicht an ein Bundesland. Wenn Sie den Ausdruck „Gemeinschaft“ hören, denken Sie an alles Mögliche, von Ihrem Kegelklub bis zu einer Religionsgemeinschaft, von einem Freundeskreis oder wenn Sie für solche Dinge Bedürfnisse haben an eheliches Güterrecht aber auf die Idee, dass eine „Gemeinschaft“ ein Bundesland sein könnte, da kommt man so von alleine nicht im deutschen Sprachgebrauch, weder in Südtirol, noch in der Schweiz, noch in Österreich und selbstverständlich auch nicht in der Bundesrepublik. Die Belgier haben jedoch zwei Arten von Bundesländern: Gemeinschaften und Regionen.

Welcher Teufel muss die Belgier geritten haben, um sich so etwas einfallen zu lassen? Darauf muss man echt kommen… uneffizienter kann man eigentlich gar nicht handeln, als die Landeszuständigkeiten auf zwei verschiedene Körperschaften zu verteilen, die so mehr oder weniger dieselben Territorien haben. Warum hat man das gemacht? Wegen der komplizierten Thematik um Brüssel, sonst hätte man den Start in den Föderalismus nie hinbekommen. Es wird zweifellos so sein, dass nach der Pubertätsphase, von der ich eben sprach und auf deren Ende wir alle hoffen, was die Aufteilung der Gebiete angeht, das belgische Bundesstaatsmodell wieder klassischer sein wird. Man wird auch in Belgien eines Tages – ich weiß nur noch nicht genau wann und hoffe noch während meiner aktiven politischen Laufbahn – zu einfacheren Aufteilungen kommen, indem man auch in Belgien nur eine Art von Bundesland kennt.

Warum hat man Regionen und Gemeinschaften gemacht? Worin besteht der Unterschied?
Der Unterschied ist ganz einfach: Ein Teil der Landeskompetenzen (Bildung, Kultur, Soziales) sind Gemeinschaftsangelegenheiten. Alle anderen sind regionale Angelegenheiten. Die Regionen und die Gemeinschaften in Belgien sind fast deckungsgleich, von ihrem Gebiet her, aber eben nur fast… da liegt nämlich der Hase verborgen. Sie werden nachher alle eine Broschüre mit nach Hause nehmen können, als Dank für Ihre äußerst große Aufmerksamkeit hier und Ihre wunderbare Stille beim Zuhören – und ich habe noch niemand gesehen, der eingeschlafen ist, ich habe zwar meine Brille nicht an, bis ganz hinten sehe ich nicht, aber in dieser Broschüre werden Sie das hier finden:

Das kann man auch von weitem verstehen. Darauf erkennen Sie die Regionen (rechts) und daneben die Gemeinschaften (links). Sie sehen, das ist ungefähr dasselbe, aber eben nur ungefähr… in dem entscheidenden Punkt Brüssel, ist das Ganze äußerst kompliziert. Da haben wir es in der Tat mit einem Gordischen Knoten zu tun und eigentlich mit der Quadratur des Kreises, die man beim Entstehen des belgischen Bundesstaates geschafft hat – was ja bisher noch kein einziger Mathematiker hinbekommen hat und voraussichtlich auch nicht hinkriegen wird. Das muss wohl etwas damit zu tun haben, dass die Stellen hinter dem Komma bei der Berechnung von Pi unendlich sind (hat mir einmal irgendein Mathematiker gesagt) was das aber aussagen will und bedeutet, weiß ich selbst nicht.

Die Regionen in Belgien sind: Flandern, (zeigt auf der Karte) Sie sehen es direkt, das ist ganz entscheidend, das Loch im Herzen Flandern, das ist Brüssel, eine eigene Region. Dann die Wallonie, wenn Sie genau hinschauen, umfasst sie auch den kleinen deutschsprachigen Teil.
Das ist das Belgien der Regionen. So sehen die Frankophonen eigentlich Belgien. Sie wollen ein Belgien aus drei Regionen: Flandern, die Wallonie und Brüssel. Die Flamen kämpfen bis aufs Blut gegen diese Vorstellung, weil sie nämlich nie akzeptiert haben und wahrscheinlich nie voll akzeptieren werden, dass dieses Loch in ihrem Herzen bleibt. Brüssel war eine alte flämische Stadt wie Brügge, Gent und viele andere und ist im Laufe der belgischen Geschichte französisiert worden. Das ist ein Loch mitten im Herzen, darüber hinaus auch noch eines, was einen Ölfleck verursacht. Wie bei jeder Stadt, zieht man ins Umland. Das machen die Aachener, indem sie teilweise sehr massiv in meine Heimat kommen; das machen die Wiener; das machen die Berliner im Speckgürtel, alles ganz normal… aber für die Flamen ist das eine offene Wunde. Je mehr Brüsseler in das flämische Umland ziehen, je größer wird die Gefahr, dass da wieder Teile Flanderns von Menschen bevölkert werden, die mehrheitlich nicht flämisch sprechen. Das ist ein ganz wichtiges Element der belgischen Geschichte und des belgischen Konfliktes. Deshalb haben die Flamen immer gesagt: Wir sind für ein anderes Modell. Wir wollen ein Belgien der Gemeinschaften.

Wie sieht das aus? Für die Deutschsprachigen sieht das schon mal viel besser aus, sie sind eine Gemeinschaft… dann kommt der geniale Trick: Für die Wallonen ist die Französische Gemeinschaft natürlich die Wallonie ohne die deutschsprachige Gegend und auch Brüssel gehört dazu, aber als Exklave. Für die Flamen ist wieder der alte Zustand, Flandern ist mit Brüssel ganz Flämische Gemeinschaft.

Wo liegt der Kompromiss? Da man sich nicht einigen konnte zu Brüssel, hat man gesagt, in Sachen Gemeinschaften gehört Brüssel sowohl zur Französischen Gemeinschaft als auch zu Flämischen. Das ergibt folgendes völlig überraschendes Ergebnis. Das Gebiet Brüssel gehört gleichzeitig drei Bundesländern an: sich selbst, der Französischen Gemeinschaft und der Flämischen Gemeinschaft. In den regionalen Angelegenheiten kann man nachvollziehen, dass das funktioniert. Brüssel kümmert sich um das, was in Belgien die Regionen machen. Bei den Gemeinschaftsangelegenheiten sind beide Gemeinschaften gleichzeitig in Brüssel zuständig. Jetzt kommt das Entscheidende: Das sollte man einmal gedanklich auf Jerusalem übertragen. Die Menschen in Brüssel können jederzeit wählen, ob sie sich der französischsprachigen oder flämischen Gesetzgebung unterwerfen, ob sie Einrichtungen der einen oder anderen Gemeinschaft benutzen, ohne dass sie sich definitiv bekennen müssen; man kann seine Kinder auf eine flämische Schule schicken und seine Eltern, bei zunehmendem Alter oder Erkrankung, in ein französischsprachiges Altenheim unterbringen. Das kann man jeden Tag ändern. Das ist genial, um ein so kompliziertes Problem wie Brüssel zu lösen, wo Flamen und Wallonen unvereinbare Auffassungen haben. Die kann man gar nicht auf einen Nenner kriegen, wenn man nicht völlig vom Grundprinzip abweicht. Deshalb hat man 1970 diese komplizierte Geschichte in Belgien erfunden. Wir geben sowohl den Flamen als auch den Frankophonen recht. So ist der belgische Föderalismus entstanden. Ohne diesen Kompromiss wäre es schon damals nicht möglich gewesen, eine Einigung zu erzielen. Das ist etwas sehr Kompliziertes. Das hat sehr lange gedauert. Zu Papier gebracht wurde es 1980, eingesetzt 1989, es ist äußerst kompliziert, keiner versteht es so ganz genau, aber es funktioniert!

Ansonsten kann man mit dieser Zweigliedrigkeit der Landesebene überhaupt nichts Vernünftiges anfangen. Deshalb hat man von Anfang an in Flandern gesagt: Wir sind zwar eine Gemeinschaft und auch eine Region, aber fusionieren das Ganze von vorne herein. Es gibt nur ein flämisches Parlament und eine flämische Regierung. Man muss schon sehr genau hinschauen, um festzustellen, wann das flämische Parlament als Gemeinschaft und wann es als Region entscheidet. Das interessiert aber keinen Menschen. Die einzige Auswirkung ist, ob diese Gesetze und Entscheidungen in Brüssel anwendbar sind oder nicht.

Die Frankophonen haben mit großer Bewunderung und Neid natürlich diese Effizienz beobachtet und sich gesagt, das würden wir ja auch gerne machen, aber wir können nicht so fusionieren, sonst schwächen wir die Position Brüssels. Deshalb hat man im französischen Landesteil etwas anders angefangen, was ein ähnliches Ergebnis erbringt. Man hat angefangen, Zuständigkeiten der Französischen Gemeinschaft der Wallonischen Region und in Brüssel einem besonderen Gremium innerhalb Brüssels zu übertragen (diese Details erspare ich Ihnen jetzt). Man hat als Nächstes gesagt – und das war ganz entscheidend – es gibt keine verschiedenen Parlamente mehr, die beide direkt von der Bevölkerung gewählt werden, sondern man lässt zwar zwei Parlamente, aber das Parlament der Französischen Gemeinschaft besteht aus allen Mitgliedern des Wallonischen Parlamentes (außer denen, die aus der deutschsprachigen Region kommen) und einer gewissen Anzahl der Mitglieder des Brüsseler Parlamentes und… viel entscheidender noch… man hat gesagt, dass man gleichzeitig Minister der Wallonie und der Französischen Gemeinschaft sein kann. So erfolgte praktisch auf eine andere Art und Weise, diese Zusammenlegung von Gemeinschaften und Regionen auch im französischen Landesteil. Das ist das Komplizierte am belgischen Bundesstaatsmodell. Das kann man unter dem Begriff „asymmetrische Zweigliedrigkeit der Landesebene“ subsumieren. Am besten lernen Sie das auswendig, dann erzählen Sie jedem, den Sie kennen, ich habe Belgien verstanden, dort gibt es eine „asymmetrische Zweigliedrigkeit auf Landesebene“. Dann werden alle Sie bewundern, Mensch, das ist aber toll, Sie kennen das! Es wird kaum einer die Frage wagen: Was heißt das denn?

Das hat natürlich enorme Auswirkungen auf die Deutschsprachige Gemeinschaft. Wir haben dieses System genauso wenig erfunden, wie wir 1920 beschlossen haben, von Deutschland nach Belgien zu kommen. Aber wir sind natürlich direkt davon betroffen. Wir sind eine Gemeinschaft und für regionale Angelegenheiten hat man uns 1970 Wallonien hinzugefügt, d.h. auf dem Gebiet deutscher Sprache gibt es zwei Bundesländer, die zuständig sind: wir selbst und die Wallonische Region. Das ist natürlich eine völlig hirnrissige Situation, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, hier noch viel weniger als anderswo. Es ist ein Überstülpen der komplizierten Lösung für Brüssel auf die Situation der Minderheit. Wir haben schon 1983 durchsetzen können, dass man das abändern kann, indem man der Deutschsprachigen Gemeinschaft regionale Zuständigkeiten überträgt… noch ein weiteres Element der Asymmetrie. Die Entwicklung geht nach unseren Vorstellungen dahin, dass wir nach und nach alle regionalen Zuständigkeiten selbst wahrnehmen werden, um genau so kohärent handeln zu können, wie das die Flamen und die Wallonen ihrerseits tun. Das ist unsere berühmte Formel: 2 + 3 = 4.

Wie kommt man darauf? Die Flamen wollen ein Belgien zu zwei im Wesentlichen; die Wallonen ein Belgien zu dritt; wir sagen, der ideale Kompromiss ist ein Belgien zu viert (4 Bundesländer: Flandern, Wallonie, Brüssel und die deutschsprachige Region). Das ist in wenigen Worten vierzig Jahre Föderalismusreform in Belgien.

Ansonsten funktioniert das Land relativ normal, so schlecht und so gut wie andere Länder auch. Wenn Sie sich unsere Wirtschaftsleistungen oder Haushaltssituation anschauen, werden Sie feststellen, dass das Haushaltsdefizit in Belgien zu den geringsten in Europa gehört, aber es gibt einen großen Haken an der ganzen Sache, das ist die sehr hohe Staatsverschuldung, die sich auf mittlerweile fast 100% des Bruttoinlandsproduktes beläuft. Das ist zwar kein Trost, aber immerhin interessant zu wissen, sie war schon mal höher, wir waren bei 130%.

Woher kommt das? Das kommt genau aus der Zeit des Übergangs zwischen dem Einheitsstaat zum Bundesstaat. Am Ende des Einheitsstaates, als wirklich nicht mehr viel klappen konnte, wo immer deutlicher wurde, dieses Verhältnis ist zu spannungsgeladen, um in einen Einheitsstaat weiter zu funktionieren und das umso mehr, als sich nicht nur die vielen Unterschiede zwischen Flamen und Frankophonen ergeben, sondern auch im Laufe der Geschichte ein umgekehrtes Machtverhältnis entwickelt hat.

Zu Beginn des belgischen Staates, im 19. Jahrhundert, waren die Frankophonen die Starken, die Mächtigen und die Flamen wirklich ärmlichstes ländliches Gebiet. Mit Niedergang von Kohle und Stahl und dem Erblühen der flämischen Wirtschaft rund um die Seehäfen hat sich das Machtverhältnis nicht nur zahlenmäßig, sondern auch wirtschaftlich völlig gewandelt.

Wenn Sie schon zu zweit streiten, was ja immer schwieriger ist als zu sechzehn oder zu neun Bundesländern, um Deutschland und Österreich zu nehmen, oder zu sechsundzwanzig, wenn man die Schweizer Kantone einmal ins Auge fasst, wovon übrigens die Hälfte noch kleiner ist, als die Deutschsprachige Gemeinschaft (flächenmäßig) und acht kleiner von der Bevölkerungszahl her. Übrigens Liechtenstein ist auch kleiner als die Deutschsprachige Gemeinschaft (sechsmal kleiner in der Fläche, halb so viele Leute), aber das nur so zu „Groß und Klein“. Sie sehen, das erwähne ich immer wieder deshalb, weil viele uns vorwerfen oder uns entgegen halten, ihr könnt dieses Belgien zu viert ja gar nicht schaffen, weil ihr zu klein seid.
Dann legen wir einmal richtig los mit Groß und Klein, z.B. wenn der Premierminister des Großherzogtums Luxemburg, Jean-Claude Junker, in China ist, wird er immer ganz ordentlich empfangen, und der Präsident empfängt ihn, und nicht der Premierminister, ja hör’ mal, du bist ja nur 0,0003% der chinesischen Bevölkerung. Wie gesagt… Groß und Klein ist relativ. Das habe ich sehr oft gesagt, aber das hat natürlich einen ganz realen Hintergrund.

Dieses Machtverhältnis hat sich gewandelt. Es sind nur zwei große Kontrahenten da. Das macht natürlich die Sache besonders geladen, schwierig, immer sehr schnell auf Konflikt ausgerichtet. Am Ende des Einheitsstaates hat man das Ganze mit der Brieftasche geklärt.
Man hat gesagt, wir bauen einen Seehafen in Zeebrügge. Dann muss aber genau dieselbe Zahl an Millionen oder Milliarden belgischer Franken damals noch in Autobahnen in der Wallonie investiert werden. So hat man natürlich die Staatsschuld ganz erheblich nach oben gefahren. Das Defizit ist Ende der 80er und 90er Jahre massiv abgebaut worden, wir waren schon unter 80%, vor der Wirtschafts- und Finanzkrise, dann gab es natürlich, wie überall, das schwierige Problem mit den Entscheidungen zur Rettung der Banken und sonstigen wirtschaftlichen Untennehmen.

Das ist das Belgien von hier und heute, ein Belgien, das wie gesagt, relativ gut funktioniert, zumindest nicht fundamental schlechter und besser als andere. Es kann noch sehr lange mit einer diensttuenden Regierung funktionieren, natürlich nicht ewig, denn man kann zwar vieles beschließen auf dieser Ebene, wie ich eben sagte, aber es gibt auch Strukturreformen, wie etwa alles, was mit dem demographischen Wandel und seinen Konsequenzen etwa auf die sozialen Sicherheitssysteme zu tun hat, die man nur mit einer wirklich handlungsfähigen Regierung hinbekommen kann, es sei denn, man zieht alle Lehren, die man so ziehen kann, aus dem Handeln von Minderheitsregierungen. Da wäre das eklatanteste Beispiel sicherlich Kanada in den letzten Jahren.

Ansonsten steckt in Belgien, wegen seiner kleinen Größe, noch eine andere Dimension. Da komme ich dann auch so langsam zum Ende. Dort steckt auch sehr viel Potential an grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Die belgische Vielfalt, die drei Kulturen und Sprachen, die vielen Grenzen führen dazu, dass die Belgier sehr mobil und sehr aufgeschlossen für grenzüberschreitende Zusammenarbeit sind, d.h. hier in unserem Bereich, da wir uns ganz besonders engagieren für alles, was mit der Euregio Maas-Rhein zu tun hat, auch bei den Diskussionen in der StädteRegion, wie man jetzt die Zusammenarbeit mit den unmittelbaren Nachbarn etwas vertieft. Man findet uns immer wieder als sehr willige Partner, um über solche Dinge zu reden.

Dieses Belgien funktioniert und ist ein spannendes Land. Ich kann Sie wirklich nur auffordern, dieses Land zu bereisen. Die Deutschsprachige Gemeinschaft kann man sehr schnell besuchen. An einem Tag hat man das sozusagen alles hin. Belgien insgesamt ist vom östlichsten bis zum westlichen Teil relativ überschaubar und von großer kultureller, landschaftlicher und auch wirtschaftlicher Vielfalt.

Das, was wir wahrscheinlich am meisten zur Überraschung unserer Gäste einsetzen können, ist eines der Produkte, mit denen Sie hier hin gelockt worden sind: Die belgischen Biere… Ich habe Ihnen versucht zu erklären, was die Belgier so alles mit den Instrumenten des Föderalismus machen. Wie sie eine sehr eigene Sicht des Bundesstaates entwickelt haben (im Hintergrund erklingt die Melodie „Spiel mir das Lied vom Tod“) – das passt jetzt wirklich (großes Gelächter), denn ich wollte Ihnen gerade sagen, dass, was an Kreativität und Originalität im institutionellen Bereich, im Jonglieren mit juristischen Begriffen des Staatsrechtes so geschieht, wird noch in einer unendlich größeren Art und Weise mit dem gemacht, was man in der deutschen Sprache „das Bier“ nennt.

Ich möchte meinen Vortrag beenden, indem ich Ihnen aus einem wunderbaren Artikel, der 2004 in April in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht wurde, etwas vorlesen.
Der Journalisten berichtet von seinem Aufenthalt in Belgien. Er nahm eine Woche lang an einer Erkundungsfahrt der belgischen Bierindustrie teil. Das, was in diesem über das belgische Bier Artikel so steht, muss wirklich jedem deutschen, vom Reinheitsgebot geschädigten Biertrinker, in wahre Verzückung bringen:

Der Wirt reicht uns die Getränkekarte. Fassungslos starren wir auf das Angebot: ‚tiefrotbraun, karamellwarm, voll und rund, sanfter Abgang, mit einer Spur reifer Waldfrüchte’. Es geht hier nicht um einen Bordeaux. Sondern um Engel, ein Bier mit 7% Alkoholgehalt. Wir halten ganz offenbar eine Bierkarte in der Hand! Neben dem Engel steht das Duvel (8,5%, trockenes Mundgefühl, bitterer Abgang). Es gibt auch ein Kirschbier und ein anderes mit ‚angenehm warmem, alkoholischem Abgang (10%)’. Eine Sorte heißt ‚Mort subite’, was auf nichts anderes verweisen kann, als den plötzlichen Tod an der Frischluft. […]

Wieder zurück in Deutschland. Umsteigen in Dortmund. Drei Tage lang haben wir ununterbrochen belgisches Bier getrunken. Nach deutscher Definition unreines Bier. Weder die Hand ist uns abgefault, noch die Zunge verpilzt, selbst die Eingeweide arbeiten noch.
Doch etwas anderes ist passiert. In der Bahnhofsgaststätte stellen wir fest, dass deutsches Bier labberig schmeckt, fade und uninteressant. Das Trinken macht einfach keinen Spaß mehr. Wir Biertrinker wirken unfroh. Kein Zweifel: Das deutsche Reinheitsgebot ist ein Desaster. Weg damit!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!