Reden

Statement anlässlich des Rundtisches in der Kammer der Regionen zum Thema: „Multi-Level-Governance in Europa“ – des 21. Plenarsitzung des KGRE


Statement von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und Vorsitzender des Ausschusses für Governance beim Kongress der Gemeinden und Regionen beim Europarat (KGRE), anlässlich des Rundtisches in der Kammer der Regionen zum Thema: „Multi-Level-Governance in Europa“ im Rahmen des 21. Plenarsitzung des KGRE

Straßburg, 19. Oktober 2011

Reden-2011-10-19-Statement Multi-level-Governance Strasbourg (405.2 KiB)

Sehr geehrter Herr Präsident,
Werte Kolleginnen und Kollegen,

da ich als Erster reden darf, möchte ich versuchen, in das Thema einzuleiten. „Multi-Level-Governance“: Das hat so etwas Zauberhaftes. Wenn irgendwo in Europa ein Problem auftaucht, dann gibt es immer einen, der aufsteht und sagt: „Das ist ein Problem der Multi-Level-Governance. Das werden wir mit Multi-Level-Governance lösen!“.

Solche Begriffe gibt es immer wieder. Ein anderes Thema, ein anderer Begriff lautet: Subsidiarität. Sehr oft hören wir, dass die Lösung aller Probleme die Subsidiarität ist.

Beides ist nicht falsch. Subsidiarität und Multi-Level-Governance sind von großer Bedeutung. Es besteht aber auch die Gefahr der Verzauberung, die zur Illusion führt. Das ist ebenfalls mit Multi-Level-Governance der Fall. Wenn wir die Ansprüche an Multi-Level-Governance allzu hoch aufhängen, laufen wir Gefahr, im Nichts zu landen oder der Beliebigkeit zu verfallen.

Mein Beitrag wird zwei Dinge ansprechen: Ich werde versuchen, etwas zur Begriffsklärung beizutragen. Außerdem werde ich versuchen, das Konzept der Multi-Level-Governance einzuordnen, einerseits in die Arbeit der Europäischen Union und andererseits in die Arbeit des Europarates, um zwischen beiden Dimensionen eine gewisse Komplementarität herzustellen und um auf jeden Fall zu verhindern, dass wir auf den beiden Stellen dasselbe tun und am Ende kein wirklich optimales Ergebnis erreichen.

Multi-Level-Governance – das Wort sagt es – hat etwas mit „Governance“ zu tun. Was ist „Governance“? Governance ist die alte „Res publica“. Governance ist der Umgang mit dem Gemeinwohl und die Ausübung staatlicher Macht. Es handelt sich um ein altes Thema, das wir immer an die Herausforderungen der neuen Zeit anpassen müssen.

Governance ist heute etwas anderes als im alten Athen. Sie wird heute auch nicht so sein, wie es morgen und übermorgen, in einer zunehmend globalisierten Welt, der Fall sein wird.

„Multi-Level“, auch das ist leicht zu verstehen. Man kann es sich wie ein Logistikunternehmen vorstellen. Da gibt es verschiedene Etagen und Niveaus, die miteinander in Verbindung gebracht werden. Es gibt deren im Wesentlichen drei: Die nationale, die regionale und die lokale Ebene. Von der regionalen Ebene haben wir eben in eindrucksvoller Weise gehört, wie komplex sie in Europa ist und wie sie ständigem Wandel unterworfen ist. Es sind diese drei Ebenen, um die es fundamental bei der Multi-Level-Governance geht.

Doch sind es wirklich nur drei Ebenen? Eigentlich sind es deren ansatzweise und im Bereich der Europäischen Union bereits effektiv deren vier. Auch die internationale Ebene nimmt zunehmend an Bedeutung zu. Diese internationale Ebene hat sich im Bereich der Europäischen Union so verdichtet, dass sie eine wirkliche vierte Ebene der Multi-Level-Governance geworden ist.

Wo liegt die Grundidee? Die Grundidee ist sehr einfach. Multi-Level-Governance ist kein Selbstzweck. Sie ist der Versuch, diese verschiedenen Ebenen möglichst effizient zusammenarbeiten zu lassen, ohne dass es jedoch zu einer Vereinnahmung der einen Ebene durch die anderen kommt. Die beste Art und Weise, das zu ordnen, ist natürlich das Subsidiaritätsprinzip, nämlich die Regel, dass man auf dem jeweils kleinsten Niveau all das macht, was man dort am besten machen kann, und nur dann Dinge weiter nach oben schiebt, wenn dies einen wirklichen Mehrwert hat.

Die Einfachheit dieser Regel sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre konkrete Umsetzung extrem schwierig ist, weil in jedem Lande andere Strukturen herrschen. Die Aufgabe besteht darin, das Gemeinsame, sozusagen wie bei einem sehr guten Schnaps, heraus zu destillieren. Dabei muss man auch verschiedene Destillationsgänge durchführen, ehe man das fertige Produkt hat. Die Schwierigkeit besteht darin, in dieser ganzen Vielfalt heraus zu destillieren, was wirklich die allgemeingültigen Voraussetzungen und Chancen einer erfolgreichen Multi-Level-Governance sein können, wobei natürlich die nationale Souveränität und die geltenden völkerrechtlichen Vereinbarungen nie verletzt werden dürfen.

Was heißt das jetzt ganz konkret für den Begriff „Multi-Level-Governance“ im Bereich der Europäischen Union und des Europarates? Für die Europäischen Union hat sich ganz eindeutig der Fokus der Multi-Level-Governance-Diskussion auf die Umsetzung des Rechtes hin entwickelt, das auf der vierten, der europäischen Ebenen in der Form von Verordnungen und Richtlinien produziert wird, sowie auf die Umsetzung der dort konzipierten Politikansätze, wie etwa die Strategie Europa 2020 oder die Strukturfondspolitik. Dazu wird Kollege Luc Van den Brande sicherlich im weiteren Verlauf der Sitzung noch Konkreteres sagen.

Aus der Sicht der regionalen Gebietskörperschaften und des Ausschusses der Regionen etwa spielt dabei eine ganz besondere Rolle, wie diese Gebietskörperschaften an der Umsetzung der europäischen Politik beteiligt werden können. Wie können sie sich davor wappnen, dass es zu Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips kommt?

Was ist nun die Problematik auf Ebene des Europarates im Allgemeinen und unseres Kongresses im Besonderen? Ich bin fest davon überzeugt, dass es auch dort eine interessante Diskussion über Multi-Level-Governance geben kann, soll und muss, aber wir sollten nicht in den Fehler verfallen, die Diskussion, die es im Rahmen der Europäischen Union gibt, im Europarat und im Kongress – lassen Sie mich es einmal als Sohn einer Bauernfamilie sehr „landwirtschaftlich“ ausdrücken, – „wiederkauen“ zu wollen. Das darf nicht der Sinn der Sache sein!

Gibt es einen besonderen Aspekt der Multi-Level-Governance-Diskussion, den wir hier in unseren Fokus stellen können? Ich glaube ja! Diese komplementäre Dimension besteht meines Erachtens in der Umsetzung des Multi-Level-Governance-Prinzips innerhalb der einzelnen 47 Mitgliedsstaaten des Europarates und insbesondere in einem Multi-Level-Governance-Ansatz im Bereich der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit.

Damit kommen wir zu einem anderen Thema, über das wir gestern anlässlich der 30 Jahre des Madrider Rahmenabkommens über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften im Plenum diskutiert haben. Da liegt ein breites Feld für unsere Arbeit im Kongress, insbesondere in der Governance-Kommission, wo wir uns komplementär zu dem, was auf EU-Ebene diskutiert wird, mit der Multi-Level-Governance-Problematik auseinandersetzen können.

Da wird es eine Reihe von interessanten Fragen zu untersuchen geben. Wie sehen die Systeme aus, die in den einzelnen Ländern beim Aufbau der staatlichen Behörden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bestehen? Wo verläuft überhaupt die Grenze zwischen der regionalen und der lokalen Ebene? Dazu haben wir gestern im Governance-Ausschuss sehr interessante Diskussionen geführt. Das ist gar nicht so einfach, wie es auf dem ersten Blick aussieht. Was kann in diese Diskussion eingebracht werden durch die sehr wichtigen Instrumente, die der Europarat entwickelt hat, wie etwa die Charta der Lokalen Autonomie oder der Referenzrahmen für Regionale Demokratie? Diese Strukturdiskussion lässt sich sinnvoll mit einer Reihe von inhaltlichen Fragen in Verbindung bringen. Welche Politikansätze lassen sich am besten in Kooperation verwirklichen? Wo liegen die guten, wo sind die schlechten Erfahrungen? All das ist ein breites Feld.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen: Multi-Level-Governance ist keine Zauberformel; sie ist eine sehr wertvolle Voraussetzung für effizientes Handeln der öffentlichen Hände; sie ist eine Möglichkeit, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen, sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch im Bereich und im Einzugsgebiet des Europarates.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!