Reden

Ansprache anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Grüfflingen


TAG DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEMEINSCHAFT
Ansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident, anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschsprachigen Gemeinschaft

Grüfflingen, den 14. November 2011

Reden-2011-11-14 Ansprache Tag Der DG Gruefflingen (192.2 KiB)

Anrede,
Werte Festversammlung,

wer sich die jüngere Geschichte unseres Landes etwas näher anschaut, der wird feststellen, dass Belgien sich in der Abenddämmerung des 20. und im Morgengrauen des 21. Jahrhunderts von einem klassischen dezentralisierten Einheitsstaat in einen Bundesstaat mit starken zentrifugalen und konföderalen Zügen umgewandelt hat.

Dieser Vorgang hat – auch im weltweiten Vergleich – etwas Ungewöhnliches, ja sogar Einzigartiges.

Meist läuft die Entwicklung umgekehrt ab.

Noch ungewöhnlicher und einzigartiger ist die Tatsache, dass im Rahmen einer solchen Umwandlung ein kleines Gebiet von 854 Quadratkilometer mit rund 76.000 Einwohnern in den Rang einer gliedstaatlichen Körperschaft, einer Region mit Gesetzgebungshoheit – wie man dies im europäischen Jargon nennt – oder eines Kleingliedstaates – wie ich gerne zu sagen pflege – erhoben und mit einer ebenso weitreichenden wie hochrangigen Autonomie ausgestattet wurde.

Die Nebenwirkung der jüngeren Geschichte Belgiens bedeutet für uns deutschsprachige Belgier nach den leidvollen Wirren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine phantastische Chance, Gegenwart und Zukunft unserer Heimat in zahlreichen Bereichen selbstbestimmt zu gestalten, uns regelmäßig mit hörbarer Stimme in das Konzert der belgischen Regionen und Gemeinschaften einzubringen sowie in Zeiten zunehmender Globalisierung europaweit ein weitläufiges Netz an fruchtbaren Partnerschaften aufzubauen.

Doch sind wir uns dieser historischen Chance zu Genüge bewusst und machen wir uns sie in ausreichendem Maße zu Nutze?

Erkennen wir das volle Ausmaß ihrer Möglichkeiten und ihres gestalterischen Potentials?

Inwieweit ist das Wissen über die sich aus der Gemeinschaftsautonomie ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten in das Bewusstsein der Bevölkerung vorgedrungen?

Konnten diese Möglichkeiten bereits ausreichend in Beteiligungsmöglichkeiten für die Ostbelgierinnen und Ostbelgier umgesetzt werden?

Auf diese und viele weitere Fragen gibt es keine einfachen und endgültigen Antworten.

Die objektive Beobachtung der Situation in der DG macht ebenso wie die kürzlich durchgeführte Meinungsumfrage deutlich, dass wir uns keineswegs an einem Ziel, sondern mitten auf einem langen Weg befinden, der übrigens nie definitiv zu Ende sein wird und der uns auch in Zukunft genau wie in der Vergangenheit mit immer neuen Herausforderungen konfrontieren wird.

Entscheidend ist letztendlich dabei, ob der Weg in die richtige Richtung führt!

Ist mehr Autonomie für die DG der richtige oder der falsche Weg?

Das ist im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des belgischen Bundesstaatsmodells die entscheidende Frage.

Das war übrigens auch schon die Gretchenfrage bei der Geburt der DG in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Damals wurde sie gegen den Widerstand vieler mit der Schaffung des Rates der deutschen Kulturgemeinschaft beantwortet, der kaum Befugnisse und keine eigene Exekutive besaß, aber direkt von der Bevölkerung gewählt wurde, was ihm für den weiteren Verlauf äußerst dienlich war.

Ein Jahrzehnt später war es dann soweit: Die Forderung des RdK nach einem Rat mit Dekretbefugnis sowie einer von ihm gewählten und vor ihm verantwortlichen Exekutive wurde Wirklichkeit.

Außerdem wurden damals mit der Verabschiedung des Artikels 59ter, §3 der Verfassung die Weichen dafür gestellt, dass der DG im Rahmen von Verhandlungen mit der Wallonischen Region regionale Befugnisse übertragen werden können.

Seitdem sind nun schon fast 30 Jahre vergangen.

In allen Bereichen, für die Parlament und Regierung Verantwortung tragen, hat sich die Lage in der DG verbessert, sind Mängel abgebaut, maßgeschneiderte Lösungen umgesetzt und zukunftstüchtige Entwicklungen eingeleitet worden.

Vieles, was damals undenkbar war und unmöglich schien, ist inzwischen Selbstverständlichkeit geworden.

Natürlich sind auch Fehler gemacht und Dinge falsch eingeschätzt worden.

In diesen Fällen konnte jedoch fast immer schnell und erfolgreich reagiert und gegengesteuert werden.

Gestalterische Kreativität und zeitnahe Reaktionsfähigkeit sind zwei der entscheidenden Trümpfe, über die überschaubare Gemeinwesen wie die DG verfügen und die bei weitem den einen oder anderen Nachteil aufwägen, der sich aus der Kleinheit ergibt.

Die Leistungen der letzten 30 Jahre können sich sehen lassen.

Kultur und Sport, Schule, Bildung und Beschäftigung, Gesundheits-, Familien-, Senioren- und Behindertenpolitik: Überall wurde Bemerkenswertes vollbracht.

Und niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass die Übernahme der Verantwortung für die Gemeinden und die Einführung einer kohärenten Infrastrukturplanung die Lage in der DG substantiell verbessert haben.

Wie sähen ohne DG die Schullandschaft und die Schulbauten hierzulande aus?

Wie wäre es um die Krankenhaus- und Altenheiminfrastruktur bestellt?

Gäbe es in St. Vith das Triangel, das 2010 insgesamt 48.000 Besucher zählen konnte und jetzt bereits einen wichtigen Trumpf für den Wirtschaftsstandort Eifel ausmacht?

Hätte es die von 2000 bis 2012 in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinden beschlossenen 2090 Infrastrukturprojekte mit einer Zuschusshöhe von rund 390 Millionen Euro gegeben?

Wie stünde es um die Dienste der häuslichen Pflege, die Einrichtungen für Menschen mit einer Behinderung, die Integration von Arbeitslosen und gefährdeten Jugendlichen, die örtlichen Bibliotheken, Sport- und Kulturstätten?

Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Sie beweist, dass die Geschichte der DG auch viel mit der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Ostbelgien zu tun hat.

Doch wo stehen wir heute?

Wie geht es weiter mit der DG, mit Belgien, mit Europa?

Europa hat uns Frieden und ein im weltweiten Vergleich einzigartiges System der sozialen Gerechtigkeit gebracht.

Europa bestimmt unser aller Leben und Handeln in vielfältiger Weise.

Aber Europa ist bei Leibe nicht in Hochform.

Europa muss sich neu und besser aufstellen, wenn es die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich meistern und seinen Platz in der Welt behaupten will.

Und davon hängt auch für uns vieles ab.

Belgien schickt sich an, sein Bundesstaatsmodell grundlegend neu zu ordnen und seinen Gliedstaaten mehr Autonomie, Zuständigkeiten und Verantwortung zu übertragen.

Außerdem stehen gesellschaftspolitische Strukturreformen größeren Ausmaßes und einschneidende Maßnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen an.

Dies wird sich ebenfalls in Ostbelgien bemerkbar machen.

Und die DG. Eine Insel der Glückseligen? Mitnichten!

Veränderungen in Europa und Belgien haben zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Situation in Ostbelgien, in Eupen ebenso wie in St. Vith, Kelmis oder Grüfflingen.

Eines steht eindeutig fest: Die kommenden Monate und Jahre werden weder langweilig noch einfach sein.

An Herausforderungen, die es zu meistern, und Hürden, die es zu bewältigen gilt, wird es weder auf Gemeinschafts-, noch auf kommunaler Ebene mangeln.

Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.

Glücklicherweise verfügen wir mittlerweile über das im Dialog mit zahlreichen Bürgern und Einrichtungen ausgearbeitete Regionale Entwicklungskonzept, dessen 16 Zukunftsprojekte klare Schwerpunkte für die Arbeit der kommenden Jahre setzen und einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Standortes Ostbelgien leisten.

Dafür sind trotz erschwerter finanzieller Rahmenbedingungen bis 2014 immerhin Mittel in einer Höhe von rund 17 Millionen Euro vorgesehen und zum größten Teil auch schon abgesichert.

Das, was an Arbeit vor uns liegt, ist alles andere als banal und belanglos.

Es ist gewaltig, schwierig und komplex.

Es verlangt Anstrengung, Einsatzbereitschaft und handwerkliches Können.

Mutloser Defätismus, ständiges Herumnörgeln, sterile Besserwisserei oder weltfremde Theorien bringen uns nicht weiter! Ganz im Gegenteil!

Es kommt auf strategische Weitsicht, konsequentes Handeln und auch und nicht zuletzt auf ein gehöriges Maß an Begeisterung an.

Und die DG ist etwas, wofür man sich aus guten Gründen zu Recht begeistern kann.

Das gilt ganz besonders für die Autonomieerweiterung im Rahmen der anstehenden Staatsreform.

Dabei geht es sowohl um die neuen Zuständigkeiten, die das institutionelle Abkommen vom 11. Oktober vorsieht, als auch um die regionalen Befugnisse, deren Übertragung die DG in Anwendung von Artikel 139 der Verfassung bei der Wallonischen Region eingefordert hat.

Um es in aller Deutlichkeit auf den Punkt zu bringen: Wir stehen vor einschneidenden Veränderungen, deren Tragweite und Bedeutung man ohne Übertreibung mit jenen Etappen vergleichen kann, die 1973 und 1984 stattgefunden und die jüngere Geschichte unserer Gemeinschaft entscheidend geprägt haben.

Es geht um Existenzielles, nämlich um die Überlebens- und Gestaltungsmöglichkeiten der DG im umgebauten belgischen Bundesstaat.

Wenn sich die Rahmenbedingungen und der Grundriss grundlegend verändern, kann und wird für uns nicht alles so bleiben, wie es einmal war.

Zu der legitimen und von allen anerkannten Fraktionen des Parlamentes getragenen Forderung nach der Übernahme aller gliedstaatlichen Zuständigkeiten mit angemessenen Finanzmitteln oder Finanzierungsmöglichkeiten gibt es keine wünschenswerte Alternative.

Dafür haben letztendlich jene gesorgt, die sich in Flandern, der Wallonie und in Brüssel – übrigens zu Recht, wenn auch auf unterschiedliche Weise – erfolgreich dafür eingesetzt haben, dass der für die Geburt des belgischen Bundesstaates notwendige, aber für dessen optimales Funktionieren untaugliche Unterschied zwischen Regionen und Gemeinschaften – wie in Flandern – von Anfang an abgeschafft wurde oder – wie im französischsprachigen Landesteil – nach und nach schrittweise relativiert und neutralisiert wird.

Das Belgien zu viert ist nicht nur eine Forderung der DG, es ist vielmehr und vor allem die logische Vollendung der belgischen Staatsreform.

Dieser Standpunkt wird erfreulicherweise von immer mehr Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien geteilt.

Dem Belgien zu viert kommen wir mit dem Abkommen vom 11. Oktober einen gewaltigen Schritt näher, wenn, ja wenn es gelingt, dieses Dokument in geltendes Recht, in neue Verfassungs- und Gesetzestexte einzumeißeln.

Die DG will diesen Weg mitgehen und nicht irgendwo auf der Strecke liegen bleiben oder abgehängt werden.

Dazu sind wir „bereit, gewillt und in der Lage“.

Bereit, weil wir diesen Weg als den richtigen erkannt haben;

Gewillt, weil dieser Weg gut ist und beflügelnde Zukunftsperspektiven eröffnet;

In der Lage, weil dieser Weg in Kontinuität verläuft zu vier Jahrzehnten Erfahrung im direkten Umgang mit der Autonomie unserer Gemeinschaft und im indirekten Umgang mit den hierzulande vom belgischen Staat und von der Wallonischen Region ausgeübten Zuständigkeiten.

Bis zum Erreichen dieses Zieles bleibt noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Innerhalb der DG ebenso, wie außerhalb.

Wir sind gut beraten, wenn wir wie in der Vergangenheit vorgehen: Beharrlich, im Dialog, Schritt für Schritt, pragmatisch beim Umsetzen ohne das prinzipielle Ziel aus den Augen zu verlieren.

Dazu werden wir in den kommenden Wochen und Monaten zu Genüge die Gelegenheit haben.

Und ich bin zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein werden und die Gestaltungsmöglichkeiten der DG erheblich ausbauen und verbessern können.

Unsere Aufmerksamkeit wird bei den anstehenden Verhandlungen immer gleichzeitig und parallel auf die zwei untrennbar miteinander verbundenen Dimensionen unserer Forderungen gerichtet sein: Einerseits die inhaltlichen Zuständigkeiten und andererseits die zu ihrer Wahrnehmung notwendigen angemessenen Mittel.

Beide gehören zusammen, das eine macht ohne das andere keinen Sinn.

Werte Festversammlung,

Haben wir am Festtag der DG einen Grund zu feiern?

Ich denke ja.

Zuallererst bringen wir mit diesem bewusst auf den Tag des Königs gelegten Feiertag unsere Dankbarkeit zum Ausdruck.

Wir haben allen Grund, unserem Vaterland Belgien und seinem Königshaus dankbar zu sein für den Platz, der uns im Belgischen Staatsgefüge zugewiesen wurde, und für die Wertschätzung, die uns als Minderheit in Belgien entgegengebracht wird.

Außerdem haben wir viele Gründe, stolz auf unsere Gemeinschaft zu sein und auf das, was ihre Einrichtungen, Betriebe, Berufstätige und Ehrenamtliche Tag für Tag leisten.

Da stehen wir den anderen Gemeinschaften und Regionen in Nichts nach.

Dort habe ich noch nie in einer Zeitung gelesen, dass ein Leitartikler sich die Frage stellt, ob es an deren Festtagen etwas zu feiern gäbe.

Wie dem auch sei.

Niemand ist verpflichtet, den Festtag der DG zu feiern.

Umso froher bin ich, dass Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, sich heute die Zeit genommen haben, nach Grüfflingen zu kommen und mit uns den seit 1990 bestehenden Festtag der DG zu feiern.

Die DG war, ist und bleibt eine glückliche Wende in der oft leidgeprüften Geschichte Ostbelgiens.

Sie ist ein Glücksfall, eine Chance zur eigenverantwortlichen Gestaltung unserer Zukunft für alle Bürgerinnen und Bürger unserer Heimat, für die Jungen, die Alten und alle, die mitten im Leben stehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!