Festansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, anlässlich der Festveranstaltung zum „Deutschen Tag 2012“ unter dem Motto: „Nordschleswig – Grenzenlose Möglichkeiten“ organisiert vom Bund Deutscher Nordschleswiger
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Tingleff/Dänemark, 3. November 2012
Sehr geehrter Herr Innenminister,
ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, nach 23 Jahren Ministertätigkeit und fast 700 Kilometern Entfernung von meiner Heimat, der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, hier in Tingleff, endlich die Lösung für ein leidiges Problem gefunden zu haben; nämlich wie man mit der etwas hölzernen Ansprache aller Ehrengäste zu Beginn eines Vortrags fertig wird. Eigentlich hätte eine solch pragmatische Lösung in Belgien erfunden werden müssen:
„Liebe Alle,“.
Auf ein Problem hat mir der Innenminister allerdings keine Antwort gegeben: Wie geht man damit um, wenn man nach sieben Rednern der achte ist, und sich vorgenommen hatte, zum Motto des Tages etwas zu sagen und dann feststellen muss, dass das die Vorredner bereits ausführlich getan haben. Eigentlich ist alles gesagt, nur noch nicht von allen. Ich hoffe, dass es mir dennoch gelingen wird, zum heutigen Thema einige für Sie interessante Überlegungen vorzutragen.
Über das Motto der Festveranstaltung „Grenzenlose Möglichkeiten“ kann man an einem 3. November recht gut reden. Man braucht nur ein bisschen in die Geschichte zu schauen, um festzustellen, dass es an dritten Novembertagen so manche echte und vermeintlich grenzenlose Möglichkeit gegeben hat.
Vor 55 Jahren, am 3. November 1957, bringt die Sputnik mit der Hündin Laïka das erste Lebewesen in der Geschichte der Menschheit in die Erdumlaufbahn und vor 26 Jahren, am 3. November 1986, wird Mikronesien als Bundesstaat von den USA in die Unabhängigkeit entlassen. Seitdem führen die beiden Landesteile Mikronesiens unschlagbar die Hitparade der kleinsten Bundesländer der Welt an. Ich weiß das deshalb so genau, weil die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens auf Platz 20, genau hinter dem Schweizer Kanton Schaffhausen, auf dieser Hitparade steht. Vor 23 Jahren, am 3. November 1989, gestattete die damalige Regierung der DDR ihren Bürgerinnen und Bürgern die direkte Ausreise aus der CSSR in die Bundesrepublik Deutschland, nachdem erneut über 5.000 Menschen in die westdeutsche Botschaft in Prag gelangt waren. Damit begann eine Entwicklung, die viel mit grenzenlosen und begrenzten Möglichkeiten zu tun hat.
Sehr geehrte Damen und Herren,
passt das Motto „Grenzenlose Möglichkeiten“ zu Minderheiten im Allgemeinen und zur Minderheit der Deutschen in Nordschleswig im Besonderen? Das ist zumindest erklärungsbedürftig. In der Vorstellung vieler Menschen in Europa und weltweit wird mit dem Begriff „Minderheit“ sehr oft eine schwierige Geschichte, eine Bedrohung oder ein Existenzkampf verbunden. Dabei ist keineswegs immer klar, ob die Minderheit überlebt, ob sie am Ende verschwindet oder assimiliert wird. Minderheiten sind immer Kinder der Geschichte und meistens ist diese Geschichte nicht einfach. Eines scheint mir besonders wichtig: Minderheiten gehören nicht ins Museum. Minderheiten sind vielmehr das lebendige Zeugnis der europäischen und der Weltgeschichte von dem, was dort geschehen ist und von dem, was man in dieser Geschichte manchmal falsch und manchmal richtig gemacht hat. Auf jeden Fall geht von Minderheiten eine Botschaft aus. Dabei erscheint mir besonders bedeutungsvoll, dass Minderheiten einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert aufweisen. Dieses Motto hat auch schon einmal Ihren Festtag hier beseelt. Ich habe vor zwei Jahren die Rede des damaligen thüringischen Ministers für Europa- und Bundesangelegenheiten, Herrn Jürgen Schöning, zugeschickt bekommen. Er hat damals sehr Bedeutungsvolles zum Mehrwert von Minderheiten gesagt.
Wenn man den grenzenlosen Möglichkeiten von Minderheiten etwas näher kommen will, kann man sicherlich in diesem Grenzraum hier mit den gekreuzten Minderheiten im Süden Dänemarks und im Norden Schleswig-Holsteins besonders interessante Beispiele finden. Auch fünf Jahre nach ihrem Erscheinen zitiere ich immer noch gerne die Studie über Minderheiten, die 2007 von der EURAC in Bozen und der EIPA in Maastricht erarbeitet wurde und in der die Rolle der Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzraum als Standortsfaktor in hervorragender und beeindruckender Weise beschrieben wurde. Für mich war diese Studie damals eine wirkliche Entdeckung. Ich erinnere mich noch gerne daran, dass ich dazu im November 2008 mit dem damaligen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kopenhagen an einer Tagung im Dänischen Parlament teilnehmen konnte. Diese Studie beweist deutlich und eindrucksvoll, wo der Mehrwert von Minderheiten liegt und wo die Möglichkeiten zu finden sind, die sich hinter diesem Mehrwert verstecken. Ich hatte in der Folgezeit die Gelegenheit, im Kongress der Regionen und Gemeinden beim Europarat (KGRE), diese Studie in einer Veranstaltung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vorstellen zu lassen. Damals wurde intensiv über das Konzept der „Minderheiten-Kompetenzregion“ diskutiert. Wenn es irgendwo in Europa eine Grenzregion gibt, worauf die Bezeichnung Minderheiten-Kompetenzregion zutreffen kann, dann ist das sicherlich hier in Ihrer Heimat. Der Mehrwert ist vor allem darin zu finden, dass ganz spezifische Entwicklungsperspektiven das Leben von Minderheiten prägen und dass in ihnen herausragendes Potenzial steckt. Das gilt auf vielen Ebenen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Handelns. Das gilt auch und vielleicht vor allem für die Kultur.
Auch wenn Sønderborg nicht Europäische Kulturhauptstadt geworden ist, so möchte ich hier an dieser Stelle sagen, dass ich bei meinem Besuch im vergangenen Jahr mit großem Interesse und großem Respekt das tolle Programm zur Kenntnis genommen habe, mit dem die Bewerbung stattgefunden hat. Ich möchte Sie alle auffordern, nach dem nicht erhaltenen Titel keineswegs in eine Depression zu fallen, sondern auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Da steckt enorm viel Potenzial drin. Wenn das gelänge, wäre das für die gesamte europäische Entwicklung an Europas Grenzen ein wunderbares Beispiel! (Applaus)
Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass die Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen (AGEG) am Donnerstag kommender Woche gemeinsam mit mehreren Städten und Regionen, die sich mit oder ohne Erfolg auf der Grundlage eines grenzüberschreitenden Konzeptes als europäische Kulturhauptstadt beworben haben, in Berlin im Rahmen ihrer Jahreshauptversammlung einen Workshop organisiert, der eine europaweite Vernetzung der grenzüberschreitenden Kulturarbeit anstrebt, um auf diese Weise ein starkes Signal, eine starke Botschaft, für den weiteren Prozess der europäischen Einigung in Vielfalt auszusenden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wenn ich von „grenzenlosen Möglichkeiten“ spreche, kommt in diesem Begriff das Wort Grenze vor. Wenn es etwas gibt, was uns alle viel mehr als wir ahnen tagtäglich beeinflusst, dann sind es Grenzen. Es gibt kaum eine wissenschaftliche Disziplin, die sich nicht mit Grenzen beschäftigt. Das fängt in der Psychologie an. Das Kleinkind entwickelt das Ich-Bewusstsein erst durch die Abgrenzung zur eigenen Mutter. Mit Grenzen beschäftigen sich auch Physik, Chemie, Philosophie, Geografie und Politik. Ganz besonders spannend wird es, wenn es um die ganz kleinen Dinge geht; so zum Beispiel bei der Nanotechnologie, wo durchbrochene Grenzen gewaltige Effekte haben können.
Grenzen beschäftigen uns andauernd. Es sind eigentlich immer die drei selben Fragen, die wir beantworten müssen: Wollen wir Grenzen erkennen? Wer das nicht macht, landet schlimmstenfalls beim Psychiater. Wollen wir sie anerkennen? Das ist manchmal von großer politischer, ja sogar weltpolitischer Bedeutung. Und dann kommt das Entscheidende: Wollen und können wir sie überwinden? Wenn uns das gelingt, stehen wir in der Tat vor „grenzenlosen Möglichkeiten“.
Grenzen sind immer Narben der Geschichte. Bestenfalls werden sie in der Weiterentwicklung, wenn sie richtig, erkannt, anerkannt und überwunden werden, zu Schweißnähten des europäischen Zusammenhaltes. Wo an Grenzen durch Verschiebung derselben Minderheiten entstanden sind, kann dieser Prozess sich als besonders interessant, aussagekräftig und zukunftsorientiert erweisen.
Das lässt sich an drei Beispielen in der europäischen Geschichte verdeutlichen, die alle mit den Pariser Vorortsverträgen von 1919 zu tun haben. Sie hatten hier zweimal Landeshauptleute aus Südtirol zu Gast, einerseits Silvius Magnago und andererseits Luis Durnwalder, dem ich in der vergangenen Woche noch einen Besuch in seinem schönen Südtirol abstatten konnte. Ihre eigene Geschichte in Nordschleswig ist eng mit diesen Verträgen verbunden. Auch meine Heimat, die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, gäbe es ohne den Versailler Vertrag nicht. Ohne diesen Vertrag wäre meine Heimat immer noch ein Stück Deutschland, 700 Kilometer westlich von Berlin, noch hinter Aachen und Monschau. Fast immer begründet die Geschichte den Ursprung und die Existenz von Minderheiten. Das Geschehen in diesen Minderheiten befindet sich eigentlich immer in einem Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite stehen die Verteidigung und die Weiterentwicklung der eigenen Identität sowie das starke Selbstbewusstsein und die oft unter widrigen Umständen gewachsene Leistungsbereitschaft. Auf der anderen Seite finden wir die Bereitschaft zur Offenheit, gepaart mit dem Willen, sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen sowie ein hohes Maß an interkultureller Kommunikationskompetenz.
Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Elementen beeinflusst und prägt das Leben und die Perspektiven von Minderheiten nachhaltig. Die interkulturelle Kommunikations-kompetenz spielt dabei eine besonders wichtige Rolle, denn Menschen aus einer Minderheit sind besonders dazu geeignet – das wird in dieser EURAC- und EIPA-Studie sehr eindrucksvoll dargestellt – Kontakt aufzunehmen, zu vermitteln und sich in verschiedenen Kulturkreisen zurechtzufinden. Interkulturelle Kommunikationskompetenz ist eine Eigenschaft, die nicht leicht zu erlangen ist, aber einen sehr großen Mehrwert erzeugt. In einer Zeitschrift des berühmten Konzerns EADS war einmal zu lesen: „Interkulturelle Kommunikationskompetenz ist bedeutend mehr als ein Fremdsprachenkurs oder eine Fettnäpfchenlehre für Fortgeschrittene“. Das gilt zweifellos für die Deutsch-Dänische Grenze!
Der Mehrwert von Minderheiten und das Entdecken wenn nicht grenzenloser, so doch immer wieder neuer Perspektiven hängt mit dem zusammen, was ich 2009 auf einer Tagung der FUEV, in den Räumlichkeiten des AdR, einmal den „notwendigen Paradigmenwechsel beim Minderheitenschutz“ genannt habe. Minderheiten müssen geschützt werden, heute ebenso wie in der Vergangenheit und wie sicherlich auch in Zukunft. Es darf jedoch nicht nur beim Schützen bleiben. Es muss vor allem deutlich werden, wie man aus einer lebendigen und selbstbewussten Minderheit, einen Standortsfaktor entwickeln kann, der im ersten Jahrhundert des dritten Jahrtausends immer noch von großer Bedeutung ist.
Bei Minderheiten ist natürlich die jeweilige Situation von Bedeutung. Es gibt über 300 Minderheiten in den 47 Staaten des Europarates. Diese umfassen etwa 100 Millionen Menschen. Dennoch sind es immer noch Minderheiten. Jede Minderheit hat ihre eigene Geschichte, ihre eigene Situation. Sie kann größer oder kleiner sein; sie kann – was sehr bedeutungsvoll ist – eine Streuminderheit sein oder eine Minderheit, die in einem geschlossenen Siedlungsgebiet lebt.
Wie dem auch sei! Sie wird immer ihre Stärke aus dem Spannungsfeld zwischen starkem Selbstbewusstsein und großer Offenheit, von dem ich eben sprach, ableiten können und müssen. Identitäre Verankerung und optimale Vernetzung sind für jede Region, aber ganz besonders für Minderheiten etwas außerordentlich Wichtiges. In den drei Minderheiten, von denen ich eben sprach und die alle etwas mit den Pariser Vorortsverträgen zu tun haben, ist dies in unterschiedlicher, aber im Kern vergleichbarer Weise anzufinden, ob in Südtirol, Nordschleswig oder in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Wenn wir morgen und übermorgen unsere Möglichkeiten nutzen und unsere Chancen wahrnehmen wollen, müssen wir uns in diese Richtung bewegen. In Anbetracht der allgemeinen Entwicklung in Belgien ist dies für die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien derzeit besonders spannend und auch nicht ungefährlich, denn sobald sich ein Staat verändert, in dem eine Minderheit lebt, entstehen neue Chancen, aber selbstständig auch neue Gefahren.
Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens feiert in den kommenden beiden Jahren drei große Jubiläen: 50 Jahre Sprachgesetzgebung in Belgien mit Anerkennung des Gebietes deutscher Sprache als spezifisches Sprachgebiet, 40 Jahre Parlament und 30 Jahre Regierung. In diesem halben Jahrhundert hat sich vieles zum Guten gewendet, was nach dem Ersten Weltkrieg eher als eine große Belastung und als großes Problem da stand.
Mein Opa, ein bodenständiger Bauer, der Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurde, hat dreimal die Nationalität gewechselt ohne dabei jemals sein Heimatdorf zu verlassen. Als Deutscher geboren, wurde er dann Belgier, dann wieder Deutscher und danach wieder Belgier. Dieses unfreiwillige Hin- und Herwandern wurde von zwei Weltkriegen begleitet. Er hatte mir als jungem Menschen einen Tipp gegeben: „Mache, was du willst in deinem Leben, aber mache niemals Politik!“ Ich habe weisen Rat allerdings nicht befolgt.
Jede Minderheit wird ihre Chancen und Möglichkeiten entdecken, wenn sie sich zu ihrer eigenen Situation bekennt, diese realistisch einschätzt und versucht, mit langem Atem und taktischem Geschick ihre Ziele zu verfolgen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Minderheiten erfolgreich sind. Das ist aber auch ein wichtiger Test, den Europa bestehen muss. Europa hat in den Verfassungsvertrag die Vielfalt zu einem konstitutiven Element des europäischen Selbstverständnisses erklärt. Das kann man natürlich in Sonntagsreden wunderbar zelebrieren, aber beweisen, dass man es damit ernst meint, kann man am deutlichsten beim Umgang mit Minderheiten. Das müssen alle Minderheiten gemeinsam in Europa immer wieder deutlich machen, und wenn es sein muss, auch einklagen. Dies bleibt eine spannende Herausforderung für die EU. Dies erweist sich sogar als noch spannender und vielerorts von einer erschreckenden Aktualität, wenn wir das Europa des Europarates im Visier nehmen.
Darauf kommt es ganz entscheidend an und das bestimmt auch die Zukunftstüchtigkeit von Minderheiten. Es weist den Weg hin zu grenzenlosen Möglichkeiten. Der Erfolg dieses Weges hängt letztlich davon ab, ob eine Minderheit bereit, gewillt und in der Lage ist, eine Strategie der Öffnung zu praktizieren, ohne die eigene identitäre Verankerung preiszugeben. Eines scheint mir sicher und der heutige Tag beweist es erneut auf sehr eindrucksvolle Weise: Hier in Nordschleswig ist dies zweifellos der Fall.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
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