Reden

Begrüßungsansprache anlässlich der Eröffnung der Retrospektive von Dr. Marc Somerhausen


Begrüßungsansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, anlässlich der Eröffnung der Retrospektive von Dr. Marc Somerhausen, engagierter Kämpfer für die Selbstbestimmung der Neubelgier in der Zwischenkriegszeit, und zur Buchvorstellung „Belgiens wiedergefundene Brüder: Eupen-Malmédy 1920-1940 im Brüsseler Parlament“ von Heinz Warny organisiert von der Kulturellen Aktion und Präsenz (KAP) und vom Grenz-Echo Verlag (GEV)

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Vor zwei Tagen habe ich eine sehr gute Idee entdeckt. Wenn man viele Persönlichkeiten vor sich hat, kann man die Begrüßung vereinfachen und die Gäste schlicht und einfach mit „Liebe Alle“ begrüßen (abgeleitet vom englischen „Dear all“). So machte das zumindest der Innenminister von Schleswig-Holstein auf einer Veranstaltung, die ich vor zwei Tagen besuchen konnte.

Je voudrais néanmoins faire une petite exception à cette manière très sommaire de saluer les personnes et personnalités aujourd’hui présentes en soulignant que c’est avec grande joie que nous accueillons ici ce soir des membres de la famille de Monsieur Somerhausen. Votre présence est importante et nous permet de faire le lien entre l’histoire et le présent.

1995 habe ich hier im BRF bei der Eröffnung des Funkhauses gesagt, dass es sich manchmal lohnt, durch die Brille der Vergangenheit in die Zukunft zu schauen. Ich hoffe, dass wir in einigen Monaten knapp hundert Meter von hier entfernt, auf den Höhen des Eupener Schorbergs, bei einer anderen Eröffnungszeremonie dazu erneut die Gelegenheit haben werden.

Im Laufe meines Lebens habe ich immer wieder erleben können, wie wichtig es ist, sich die Geschichte anzuschauen. Allein in den letzten beiden Wochen durfte ich diese Erfahrung gleich zwei Mal machen. Heute bietet sich dazu die dritte Gelegenheit. Ich konnte mich am 25. Oktober d.J. im italienischen Südtirol und am 3. November d.J. im dänischen Nordschleswig mit Minderheiten beschäftigen, die in vielfältiger Weise mit unserem heutigen Thema in Verbindung stehen. Heute entsteht eine interessante Schnittmenge zwischen zwei Initiativen, die eigentlich unabhängig voneinander geplant waren, (scherzhaft) denn ich glaube nicht, dass es eine strategische, gemeinsame Planung zwischen dem Grenz-Echo Verlag und der sozialistischen Bewegung in der Deutschsprachigen Gemeinschaft gibt.

Seit vielen Jahren organisiert die VoG Kulturelle Aktion und Präsenz (KAP) mit anderen Bestandteile der sozialistischen Bewegung Ausstellungen in Erinnerung an Menschen, die für unsere Region Wichtiges geleistet haben: Karl Weiß, August Pitsch, Albert Daulne, Armand Poth, Clément Bonnecompagnie, Walter Mölter waren diejenigen, die bisher in den Mittelpunkt solcher Ausstellungen gestellt wurden. Heute steht Marc Somerhausen im Mittelpunkt. Das ist die gemeinsame Schnittmenge mit dem Buch, das Heinz Warny nach sorgsamer Kleinarbeit zusammengestellt hat. Das Buch ist nicht nur Marc Somerhausen gewidmet, sondern all denen, die nach der Angliederung der Ostkantone an Belgien hierzulande bis 1940 politisch gewirkt haben. Marc Somerhausen nimmt da eine herausragende Stellung ein. Jeder, der die Gründe dafür entdecken will, sollte dieses Buch lesen. Es lohnt sich! Ich habe es in den letzten Tagen gelesen und sehr viel Interessantes entdeckt.

Doch wo liegt der Bezug zu Nordschleswig und Südtirol? Der Bezug ist ganz einfach. Es sind die Pariser Vorortsverträge, wozu auch der Versailler Vertrag gehört, dem wir im Jahr 2010, gemeinsam mit dem Goethe-Institut in St. Vith, eine wissenschaftliche Tagung widmen konnten. Diese Verträge haben das Schicksal von drei Minderheiten entscheidend beeinflusst, indem sie Grenzen festgelegt oder verschoben haben. Wenn man sich die Geschichte der deutschen Minderheit in Nordschleswig, der österreichischen Minderheit in Südtirol und unsere eigene Geschichte als deutschsprachige Belgier hier vor Ort anschaut, wird man in der Tat feststellen, wie folgenschwer diese Grenzverschiebungen zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts gewesen sind.

Man wird außerdem feststellen, dass in den Debatten, die überall stattgefunden haben, drei Fragen, eine große Rolle gespielt haben: Die Frage nach der eigenen Identität, ihrer Verteidigung sowie ihrer Entwicklung, die Frage nach der Bedeutung von Volksbefragungen im Völkerrecht der damaligen Zeit und die Frage nach der Notwendigkeit irgendeiner Form der Selbstverwaltung oder Autonomie für die besagten Minderheiten.

Diese drei Fragen kann man auf treffliche Art und Weise in allen drei Situationen wiederfinden. Die bedeutungsvolle Rede, die der hervorragende Jurist Marc Somerhausen 1927 im belgischen Parlament gehalten hat, bringt diesen Bezug auf sehr präzise Art und Weise inhaltlich zum Ausdruck. Da wird z.B. die Volksbefragung in Nordschleswig detailliert mit der in den Ostkantonen verglichen. Daraus lassen sich interessante Lehren ziehen.

Das hat viel mit der Zukunft zu tun und lässt uns – wie vorhin gesagt – durch die Brille der Vergangenheit in die Zukunft schauen. Dass diese Vergangenheit manchmal sehr nahe an der Wirklichkeit liegt, kann man in diesem Buch an vielen Stellen entdecken; nicht nur bei den Aussagen von Marc Somerhausen, sondern auch bei Aussagen des Abgeordneten Frères und des Senators Esser, von denen auch in diesem Buch die Rede ist.

Es ist gesagt worden, die Abwanderung aus den Dörfern in die Städte müsse aufgehalten werden. Dieses ist nur dann möglich, wenn gute Lebensbedingungen für die Landwirtschaft erreicht werden.“ Wenn Sie diesen Satz hören, werden Sie nicht unbedingt daran erkennen, dass das ein sehr richtiger und wichtiger Satz des Abgeordneten Frères vom 20. Juni 1939 im belgischen Parlament war.

Senator Esser hat am 13. März 1928 gleich zwei Aussagen gemacht, die aktueller nicht sein könnten. Bei der Bewertung der Anerkennung der Rechte der deutschen Sprache in Belgien, zur damaligen Zeit, sagte er Folgendes: „Leider besteht jedoch oft ein großer Unterschied zwischen den im Gesetz verankerten Grundsätzen einerseits und deren Durchführung und Befolgung andererseits.“ Das hört sich sehr aktuell an. Geradezu brandaktuell ist der folgende Satz aus derselben Rede: „Ich möchte es nicht unterlassen, die Regierung auf den unglaublich schlechten Zustand der Landstraßen in den neubelgischen Gebieten hinzuweisen“. Das war damals schon der Fall. Ob das uns jetzt beruhigen kann oder eher besorgniserregend ist, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Bei Marc Somerhausen kann man unwahrscheinlich vieles zitieren, was einen sehr aktuellen Bezug hat. Zur Schaffung eines eigenen Wahlkreises sagte er z.B. am 24. Juni 1925: „Worum geht es? Die Frage ist ganz einfach diese: Werden wir die deutschsprachige Bevölkerung in wallonischen Distrikten ertränken?“ So einfach ist das…damals ebenso wie heute. Dann gibt es einen Passus, der sozusagen etwas Prophetisches hat und der aus der bedeutenden Interpellation von 1927 stammt, in der er sich für die Durchführung einer echten und keiner gezinkten Volksbefragung ausspricht und in der er die Hoffnung zum Ausdruckt bringt, dass sich die Bevölkerung dieser Kantone mehrheitlich zu Belgien bekennen werde. In dieser Interpellation steht ein Passus, der für das Thema „Welche Zukunft hat Belgien?“ geradezu visionär ist: „Man könnte sich vorstellen, dass das dreisprachige Belgien künftig ein Staat wird, den man der Schweiz gleichstellen sollte. Man könnte sich vorstellen, dass Belgien einmal das bindende Glied zwischen Frankreich, Deutschland und Holland wird, dass es eine freiheitliche Föderation dreier Völker ist, in der sich drei unterschiedliche Kulturen entfalten. So könnte ein höchst fruchtbarer kultureller Austausch entstehen. Dies könnte ein Mikrokosmos desjenigen sein, das wir heute Europa nennen.

Aktueller könnte man viele Dinge kaum beschreiben. Es besteht durchaus ein sehr enger Zusammenhang zwischen der historischen Dimension der Angliederung unserer Heimat an Belgien und der aktuellen Debatte über die Zukunft Belgiens und die Zukunft der Deutschsprachigen Gemeinschaft im belgischen Bundesstaat. Viele der Perspektiven und Chancen, die damit verbunden sind, lassen sich bereits als Hefeteig in Aussagen früherer Jahrzehnte wiederfinden.

Das macht deutlich, dass wir noch einen sehr langen Weg gehen müssen. Aber dieser Weg hat eine bestimmt Richtung und führt nur dann zum Ziel, wenn es zwischen den Bestandteilen des belgischen Staates zu einem von allen getragenen Gleichgewicht und zu einem Miteinander kommt, das in der Vielfalt den Mehrwert des Gemeinsamen erkennt.

Das ist ein Gedanke, den gerade wir deutschsprachige Belgier immer wieder nach vorne bringen, wenn wir für ein Belgien zu viert plädieren und unsere klare Aussage wiederholen: „Wir sind bereit, gewillt und in der Lage, mit angemessenen Mitteln oder Finanzierungsmöglichkeiten all die Verantwortung zu tragen, die im belgischen Bundesstaat den Gliedstaaten übertragen wurde oder übertragen wird.“ Wer dafür Argumente braucht und Visionen sucht, der wird sie u.a. in diesem Buch finden.

Ich möchte meinerseits dem Grenz-Echo Verlag und Herrn Heinz Warny als Autor dafür danken, dass diese Arbeit hierzulande geschieht. Mein Dank geht auch an die Organisatoren der Ausstellung und insbesondere die KAP. Es ist eine wichtige Geschichtsarbeit, eine Aufarbeitung dessen, was unsere Vergangenheit ausmacht und was unsere Zukunft mitbestimmt. Deshalb freut es mich, dass es uns gelungen ist, im Rahmen des Regionalen Entwicklungskonzeptes ein sehr umfangreiches, langfristig angelegtes Geschichtsprojekt in die Wege zu leiten.

Es lohnt sich, sich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Dank dieses Buches können wir das nun bedeutend besser, schneller, zügiger und auch tiefgründiger als bisher machen.

Dafür noch einmal herzlichen Dank und Ihnen, verehrte Gäste, vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!