Reden

Ansprache anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Raeren


TAG DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEMEINSCHAFT
Ansprache von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident, anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschsprachigen Gemeinschaft

Reden-2012-11-16-Ansprache Zum Tag Der DG In Raeren (226.2 KiB)

Anrede,
Werte Festversammlung,

der Herr Parlamentspräsident hat uns in seiner Festtagsrede an die denkwürdigen Jubiläen erinnert, die uns in den beiden kommenden Jahren erwarten und die uns in vielfacher Weise den Anlass bieten, auf ein halbes Jahrhundert Autonomie zurückzublicken.

In dieser Zeit hat unsere Gemeinschaft manches erlebt und auch überlebt.

Sie hat Kinderkrankheiten auskuriert; sie hat Erfolge erzielt und Rückschläge erlitten; sie hat mannigfache Erfahrungen sammeln können; sie ist mittlerweile erwachsen geworden.

In diesen knapp fünfzig Jahren und vor allem seit 1984 haben Parlament und Regierung Ostbelgien nach eigenen Vorstellungen gestalten und ein beachtliches Netz an Partnerschaften innerhalb und außerhalb Belgiens aufbauen können.
Wie zukunftstüchtig jedoch ist unsere Gemeinschaft?

Ist sie richtig aufgestellt, um die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte erfolgreich zu meistern?

Ist sie nicht nur bereit und gewillt, sondern auch in der Lage als kleine Region mit Gesetzgebungshoheit – als Kleingliedstaat – einen spürbaren und substantiellen Beitrag zur Festigung des Standorts Ostbelgien und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen unserer Heimat zu leisten?

Denn nur wenn ihr dies gelingt, werden wir die Einwohnerinnen und Einwohner des deutschen Sprachgebiets vom nachhaltigen Mehrwert der Gemeinschaftsautonomie überzeugen können.

Genau wie unser Land, Europa und die gesamte Welt erwarten uns in den kommenden Jahren schwierige Zeiten und bedeutende Veränderungen.

Zukunftsforscher weisen zu Recht darauf hin, dass die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts von folgenreichen Megatrends geprägt sein wird, zu denen u.a. der demographische Wandel, die Ressourcenknappheit, die Klimaveränderungen und die Globalisierung gehören.

Und erschwerend kommen noch die Auswirkungen der weltweiten Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise hinzu, die noch lange nicht bewältig sind.

All dies trifft ebenfalls die DG und stellt uns alle vor große Herausforderungen.

Erfolgreiches Gestalten und Regieren in gesellschaftlichen und finanziell schwierigen Zeiten wird auch hierzulande nicht einfacher werden, in den Gemeinden ebenso wenig wie in der Gemeinschaft.

Und es wäre völlig falsch, irreführend und sogar gefährlich, den Eindruck zu erwecken, dank unserer bereits vorhandenen und demnächst noch erheblich erweiterten Autonomie könnten wir diese Probleme alle selbst, alleine und aus eigener Kraft lösen.

Wir müssen sehr genau unterscheiden zwischen dem, was wir durch eigenes Handeln beeinflussen können, und dem, was auf anderen Ebenen in unserem Land, in Europa und in der Welt entschieden werden muss.

Wir sollten auch wissen, dass es nur für Populisten und Demagogen einfache Lösungen gibt.

In Wirklichkeit sind die Dinge vielschichtig und nur mit einem komplexen Maßnahmenbündel verbesserbar.

Nachhaltige Lösungsstrategien setzen darüber hinaus die Bereitschaft zu einem Mentalitätswandel voraus, zu dem zweifellos auch der Abschied von unserem bisherigen Wachstumsmodell gehört.

Dennoch sollten wir unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nicht unterschätzen.

Wenn wir es wirklich wollen und systematisch anpacken, können wir auch auf Gemeinde- und Gemeinschaftsebene Vieles leisten, bewegen, bewahren und verbessern.

Und wenn wir dabei als Gemeinde- und Gemeinschaftsverantwortliche eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten und möglichst viele Synergien entfalten, können wir die Wirksamkeit unseres Handels noch erheblich steigern.

Dies gilt übrigens auch für die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn jenseits der Sprach- und Staatsgrenzen.
Dazu werden wir in den kommenden drei Jahren eine ganz besondere und nur alle fünfzehn Jahre wiederkehrende Gelegenheit haben.

Anfang 2013 übernimmt die DG turnusmäßig den Vorsitz der Euregio Maas-Rhein.

Dies bietet uns eine außerordentlich interessante Gelegenheit, in unserem Grenzraum, 20 Jahre nach Wegfall der Binnengrenzen, an einer alten EU-Binnengrenze bestehende Synergien weiter auszubauen, neue auf den Weg zu bringen und einen grenzüberschreitenden, integrierten Verflechtungsraum für 4 Millionen Menschen zu schaffen.

Dabei werden unsere europaweiten Kontakte und Partnerschaften übrigens eine wertvolle Hilfe sein.

Und ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich, genau wie meine Kollegin und meine Kollegen in der Regierung, außerordentlich auf diese Aufgabe freue. Denn wir wissen, wie wichtig diese Arbeit auch für die Verbesserung des Standortes Ostbelgien ist.

Erfolgreich Zukunft gestalten setzt voraus, die eigenen Stärken und Schwächen genau zu kennen, um die einen aus- und die anderen abzubauen.

Mit dem Ausarbeiten und Umsetzen des REK, des Regionalen Entwicklungskonzeptes, haben wir in diesem Bereich seit 2008 bedeutende Fortschritte erzielen und auch schon Beachtliches verwirklichen können.

Diesen Prozess wollen wir in den kommenden Jahren konsequent fortsetzen und im Hinblick auf ein zweites Umsetzungsprogramm der Strategie „Ostbelgien leben 2025“ weiter vorantreiben.

Zwischen dem REK I mit seinen 16 Zukunftsprojekten und dem REK II soll und muss es einen nahtlosen Übergang geben.
Da darf keine Zeit verloren gehen.

Da müssen bereits heute die Taten von morgen und übermorgen systematisch vorbereitet werden.

Dasselbe gilt übrigens auch für den Paradigmenwechsel in der Infrastrukturpolitik der Deutschsprachigen Gemeinschaft.

Nachdem wir den in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstandenen Infrastrukturstau seit 1999 dank eines Investitionsvolumens von insgesamt 500 Millionen Euro in über 2.200 Projekte systematisch abgebaut haben, wollen wir uns nun zielstrebig und intensiv mit der energetischen Sanierung des Infrastrukturbestandes beschäftigen und das Konzept des nachhaltigen Bauens einführen, in dessen Mittelpunkt die gesamte Lebensdauer und nicht nur das Errichten oder Renovieren von Gebäuden steht.

Bei der Suche nach Zukunftschancen und Standortsnischen sollten wir nicht davor zurückschrecken, neue und innovative Wege zu beschreiten.

Unsere Gemeinschaft als Tor zu Belgien.

Die James-Rizzi-Ausstellung in St. Vith liefert uns dazu ein treffliches Beispiel, das gestern auf der Veranstaltung zum Tag der DG in Brüssel viel Beachtung fand.

A propos Brüssel…Während wir uns hier in Raeren versammeln, geht in Brüssel eine hochinteressante Kontaktbörse zu Ende, auf der 21 Betriebe aus dem ostbelgischen Bau- und Baunebengewerbe sich einer dortigen Kundschaft präsentieren, die für den Bau, die Renovierung oder die Einrichtung ihres Zuhauses auf Handwerker zurückgreifen will, die der deutschen Sprache mächtig sind und fachlich einen guten Ruf haben.

Unsere Gemeinschaft als Laboratorium für Initiativen im Bereich der regionalen Kreislaufwirtschaft.

Dafür ist die DG mit ihrer überschaubaren Größe und ihren hochrangigen Zuständigkeiten eine besonders geeignete Gebietskörperschaft.

Dies werden wir in den kommenden Monaten am Beispiel des Energieleitbildes und der Vermarktung regionaler Produkte verdeutlichen können.

Dies ließe sich auch auf dem Gebiet der regionalen Komplementärwährungen und der Finanzierung regionaler Energieeffizienzprojekte mit Mitteln aus den regionalen Sparaufkommen fortsetzen, so wie es etwa Prof. Gege anlässlich einer Veranstaltung der Eupener Juniorenkammer angeregt hat.

Unsere Gemeinschaft als Standort flächendeckender Innovationsansätze.

Genau das ist uns in den letzten Jahren im Bereich der Sozial-, Tourismus-, und Bildungspolitik immer wieder gelungen;

Genau das liegt den Vereinfachungen im Bereich der Förderung des kommunalen Straßenbaus oder der Gehaltsstrukturen im Unterrichtswesen zu Grunde;

Genau das geschieht derzeit mit der Einführung eines computergestützten Geschichtsunterrichtes in allen Sekundarschulen, der im Rahmen eines europaweiten Forschungsprojektes wissenschaftlich begleitet wird und für den die Regierung in Anbetracht seiner Bedeutung auch in Zeiten knapper Finanzen die erforderlichen Mittel freigemacht hat, damit der notwendige Einsatz von iPads oder sonstigen Tabletts für die beteiligten Schüler kostenneutral bleibt.

Der Einstieg in das REK II und in den infrastrukturellen Energieeffizienzschub sind spannende Herausforderungen, denen sich die Regierung auch in schwierigeren Zeiten stellen will und bei deren Verwirklichung sie uneingeschränkt und vorbehaltlos auf Zusammenarbeit setzt:

  • Auf die Zusammenarbeit mit Partnern überall in Europa, von deren Erfahrungen wir lernen können;
  • Auf die Zusammenarbeit mit den Gemeinden, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten vor denselben Aufgaben stehen und mit denen wir den Dialog während der im Frühjahr anstehenden Runde durch die neun Gemeinden unseres Sprachgebietes fortsetzen und vertiefen wollen;
  • Auf die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, die auch in Ostbelgien eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe wahrnehmen und die innerhalb des WSR ergebnisorientiert kooperieren sowie mit der Regierung in ständigem Dialog stehen;
  • Auf die Zusammenarbeit mit allen Institutionen, Einrichtungen und Vereinigungen in unserer Gemeinschaft, die sich besonderen Aufgaben widmen und sich in mannigfaltiger Art und Weise für das Allgemeinwohl einsetzen;
  • Und nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit mit allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die in unserer kleinen und überschaubaren Gemeinschaft – einer echten Mitmachgemeinschaft – persönliches Engagement entwickeln und selbst Initiativen ergreifen wollen.

Dazu gibt es nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, die zweifellos in Zukunft noch besser genutzt werden können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!