Rede von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, zum Thema: „Europa – wie weiter?“ anlässlich des Aachener Forums für Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik organisiert vom Blauen Bund e.V. Aachen, vom Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen, der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stadt Aachen
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Meine sehr geehrte Damen und Herren,
wenn man hier im Krönungssaal des Rathauses zu Aachen das Wort ergreifen darf, weht einem der Wind der Geschichte ins Gesicht. Ich freue mich deshalb, dass ich in den 22 Jahren meiner bisherigen Ministertätigkeit heute zum vierten Mal an diesem Rednerpult stehen darf. Nun verdanke ich dies aber in Wirklichkeit nicht den vielen effektiven oder vermeintlichen Qualitäten, die Sie mir gerade liebenswürdiger Weise zugesprochen haben, sondern schlicht und einfach dem überprallen Terminkalender des Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz. Ich soll ihn heute während 20 Minuten vertreten. Ich sage es Ihnen von vorne herein: Dazu bin ich weder bereit und gewillt, noch in der Lage. Warum? Mir fehlt dazu die demokratische Legitimation des Europaparlamentes. Wenn der Lissabon-Vertrag etwas Positives gebracht hat – nach der fürchterlichen Bauchlandung im Verhältnis zu den großen Ambitionen des Konvents -, dann ist es sicherlich die Stärkung des Europaparlamentes. Außerdem habe ich nicht dieselben europäischen Ambitionen wie Martin Schulz. Da müssen Sie schon mit etwas kleineren Brötchen Vorlieb nehmen. Dennoch bin ich sehr froh, heute Morgen in das Thema mit einführen zu dürfen. Nicht weil ich ein Experte der Sicherheitspolitik wäre. Ich selbst habe nicht einmal in der belgischen Armee gedient, als diese noch eine Milizarmee war. Schon eher, weil ich in der Sicherheit, in all ihren Dimensionen – in der physischen und militärischen, ebenso wie in der Sicherheit vor den Unabwägbarkeiten der Lebensrisiken – eine fundamentale und entscheidende Herausforderung für Europa sehe.
Martin Schulz hat am Tag seiner Wahl zum Präsidenten des Europaparlamentes in Straßburg gesagt, dass die Europäische Union zum ersten Mal in Ihrer Geschichte für Menschen nicht mehr die Hoffnung auf eine bessere Lebensgestaltung, sondern die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensbedingungen verkörpert. Das hat sehr viel mit dem Thema Sicherheit in all seinen Dimensionen zu tun. Ich selbst bin immer der Meinung gewesen, dass man das Gefühl der Sicherheit nicht auf dem Operationstisch zerschneiden kann. Ein Mensch fühlt sich sicher oder er fühlt sich eben nicht sicher. Die Ursache der möglichen realen oder vermeintlichen Unsicherheit ist immer etwas, was subjektiv empfunden wird. Wenn sich in einem der Bereiche, die ich eben ansprach, Unsicherheit breit macht, überdeckt das alles andere. Wir stehen derzeit in Europa vor einem großen Problem der Unsicherheit, aus dem wir nur herauskommen, wenn es uns gelingt, über und mit Europa wirkliche für die Menschen nachvollziehbare Antworten auf die großen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu finden.
Zahlreiche Zukunftsforscher reduzieren diese Herausforderungen auf vier Themen. Da ist zuerst der demographische Wandel. Deren umfangreiche Folgen sind uns nur ungenügend bewusst. Sie ergeben sich sowohl aus der teilweisen Veralterung als auch aus der zunehmenden Konzentration der Weltbevölkerung in Metropolen. Die zweite Herausforderung bildet die zunehmende weltweite Ressourcenknappheit. Da denken alle zuerst ans Öl. Es wäre vielleicht gar nicht so uninteressant, auch einmal ans Wasser zu denken! Dann kommt als nächstes der Klimawandel. Von den über 50 Metropolen mit über 10 Millionen Einwohnern, die es im Jahr 2050 geben wird, sind zahlreiche von Überschwemmungen bedroht, wenn sich durch weitere Klimaveränderungen der Meeresspiegel um einige Meter erhöhen würde. Die Globalisierung konfrontiert uns insbesondere in Europa mit einer vierten großen Herausforderung.
All das wissen wir schon lange. Wir wissen im Grunde auch, was getan werden muss, aber wir tun es nicht oder nur ungenügend! Wenn wir uns die Dinge genau anschauen, wissen wir, dass keiner der Nationalstaaten dieser Welt, schon gar nicht die des europäischen Kontinentes, alleine in der Lage ist, diese Herausforderungen zu meistern… auch nicht das im Vergleich zu Belgien etwas größere Deutschland. Deshalb gibt es zur Fortsetzung des Prozesses der europäischen Integration – trotz aller Krisen und Schwierigkeiten – keine wirklich wünschenswerte Alternative. Bei aller Misere ist diese Erkenntnis übrigens zum jetzigen Zeitpunkt eines der stärksten Argumente für Europa. Was wir dieser Tage ansonsten noch von Europa hören, ist nicht erbaulich und begeisternd. Ich weiß nicht, ob Sie das Spektakel des gestrigen Gipfels im Fernsehen mitbekommen haben. Was da praktiziert wird, ist genau das, was nicht passieren darf, wenn wir die Menschen wieder für Europa begeistern wollen. Das sage ich ohne irgendeine Schuldzuweisung, zu der ich ohnehin nicht legitimiert wäre. Aber wie will man an die Kraft und Macht Europas glauben und die großen Herausforderungen unserer Zeit meistern, wenn man solch einen Dissens, solch ein Gerangel und solch einen Kuhhandel sieht? Da muss sich wirklich Einiges fundamental ändern. Das ist leichter gesagt als getan. Meines Erachtens müssen europäische Schieflagen korrigiert werden. Ich möchte deren vier erwähnen und zum Schluss einen Lösungsansatz vorschlagen, der mit meiner eigenen Erfahrungswelt etwas zu tun hat.
Was sind die vier entscheidenden Schieflagen? Da wäre als erstes die manchmal schon als Besessenheit zu bezeichnende Verliebtheit Europas, alles bis ins letzte Detail zu reglementieren. Was wird da nicht alles reglementiert? Bei jeder Karlspreisverleihung hier in Aachen werden in den Festreden treffliche Beispiele zitiert. Am besten kann das übrigens der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Junker. Im Kontrast dazu erweist sich dieses historisch so bedeutende Europa auf der weltpolitischen Bühne als ein kraftloser Zwerg, insbesondere im Bereich der militärischen Sicherheit. Da ist ein Gleichgewicht aus den Fugen geraten, wenn es überhaupt je bestanden hat. Der Lösungsansatz ist in einer Neugestaltung der Multi-Level-Governance zu finden. Wir müssen wirklich zwischen Europa, den Staaten, den Regionen und den Kommunen die Verantwortung so verteilen, dass das Ganze für die Bürgerinnen und Bürger etwas Kohärentes ergibt. Für diese ist letztlich von Bedeutung – wie Alt-Bundeskanzler Kohl einmal gesagt hat -, was am Ende „hinten dabei heraus kommt“.
Die zweite Schieflage ergibt sich aus ineffizienten Entscheidungsstrukturen. Wir haben in Europa einen unvorstellbar großen Fehler gemacht, als wir aus nationaler Eitelkeit darauf verzichtet haben, vor der EU-Erweiterung beim Nizza-Vertrag die Europäische Union so zu organisieren, dass sie auch zu 27 Mitgliedsstaaten vernünftig funktionieren kann. Wenn heute bei einem Ministerrat jeder „Guten Tag!“ gesagt, die jeweilige rotierende Präsidentschaft zu dem wunderbaren Rahmenprogramm beglückwünscht und sich für das schöne Essen am Vorabend bedankt hat, dann ist der erste Teil des Tages schon vorbei, ohne das irgendetwas Inhaltliches zur Sprache gekommen ist. Damit überhaupt ein Resultat auf den Tisch kommt, müssen die Mitarbeiter der Ständigen Vertretungen genügend gemauschelt haben. Ebenso unbefriedigend gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament, der Kommission und dem Ministerrat. Auch wenn die EU nicht nach dem in den Mitgliedsstaaten üblichen System der parlamentarischen Demokratie regiert werden kann, muss sich auf der Ebene der Entscheidungsstrukturen Einiges ändern und mehr demokratische Legitimation Einzug halten.
Lassen Sie mich zur dritten Schieflage kommen. In Europa gibt es gewisse Dinge, die sehr genau und sehr streng geregelt sind. Das gilt insbesondere für das Wettbewerbsrecht. Da haben wir es mit unmittelbar anwendbarem Europarecht zu tun. In anderen Bereichen wie etwa bei der Daseinsfürsorge ist Europa oft hilflos und handlungsunfähig, solange keine Einstimmigkeit besteht. Viele meinen, Europa müsse sich in Anwendung des Subsidaritätsprinzips aus diesen Bereichen heraushalten. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass die bestehenden Regeln im Bereich des Binnenmarktes und des Wettbewerbs die Handlungsspielräume für Dienstleistungen öffentlichen Interesses erheblich einengen und in die Defensive treiben. Das fördert keineswegs, sondern zerstört vielmehr die Glaubwürdigkeit Europas, insbesondere auf der Ebene der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften.
Eine vierte Schieflage plagt zurzeit die Staaten der Eurozone ganz besonders, deren Schaffung wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Begeisterung gefeiert haben. Ich bin noch nicht so alt, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, wie kompliziert und schwerfällig es vor einigen Jahrzehnten war, mit drei Geldbörsen durch das Grenzland zu fahren und in Gulden, Mark oder Franken zu bezahlen. Wenn ich das meinen Kindern erzähle, zucken diese nur mit den Achseln. Das war für mich ein beängstigendes Gefühl, als ich 1973 meine erste Stereoanlage von Aachen nach Eupen geschmuggelt habe. Das erlebt man heutzutage nicht mehr. Es herrscht Mobilität. Die Grenzen sind offen geworden. Es entstehen grenzüberschreitende Verflechtungsräume. Bei der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung sind wir leider auf halbem Wege stecken geblieben. Mit dem bisher erreichten Niveau an Integration hat man zwar auf das Instrument der nationalen Währungspolitik verzichtet, aber man kann wegen mangelnder Zuständigkeiten keine erfolgreiche gemeinsame Wirtschaftspolitik führen. Da besteht akuter Handlungsbedarf. Da muss Europa dringend weiterentwickelt werden.
Andere Kontinente können als Beispiel dienen. Wir knabbern momentan sehr hart an der Schuldenkrise, nachdem wir zu Beginn eine importierte Bankenkrise hatten, die Banken gerettet haben und nun in Schwierigkeiten geraten, weil unsere Staaten zu hoch verschuldet sind. Darüber sollte man einmal nachdenken. Es steht außer Frage, dass wir die Verschuldung der europäischen Staaten, unabhängig von der jetzigen Schuldenkrise, abbauen müssen. Man kann darüber diskutieren, ob der Fiskalpakt die richtige goldene Regel vorsieht oder ob man nicht eher die vor der Föderalismusreform II in Deutschland bestehende Schuldenbegrenzung in einer verbesserten Form hätte einführen sollen. Schauen wir uns Amerika und Japan an. Jene Staaten, die uns in Sachen Verschuldung Lektionen erteilen wollen. Diese sind teils bedeutend höher verschuldet als z.B. Griechenland. Da gibt es nicht die Probleme, die wir uns hier in Europa aufgeladen haben und da ist noch Einiges nicht im Gleichgewicht.
Erst wenn wir diese vier Schieflagen und vielleicht noch ein paar andere weggearbeitet haben, wird Europa wieder erfolgreich und für die Menschen spürbar zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beitragen können.
Auf der Suche nach dem richtigen Weg gibt es viele Möglichkeiten. Parlamentspräsident Martin Schulz hat dieses Jahr an dem so historischen 9. November, der in Deutschland immer an 1918, 1923, 1938 und 1989 erinnert, in Berlin eine bedeutende Rede gehalten, die ich eigentlich heute hier hätte vorlesen können und die in der FAZ unter dem Titel „Die Rückkehr zur Langfristigkeit“ veröffentlich worden ist. Ich glaube in der Tat, dass Europa einen schärferen Blick für das Längerfristige braucht. Es gibt sicherlich kein Wundermittel, um Europa wieder flott zu machen. Zu den vielen Dingen, die man in diesem Zusammenhang berücksichtigen muss und von denen Sie sicherlich einige heute noch vertieft diskutieren werden, gehört zweifellos auch der Umgang mit dem Leben an den Grenzen.
Europa ist besonders reich an Grenzen. Das sehen Sie insbesondere, wenn Sie sich Europa auf einer flachen Landkarte anschauen. Diese Grenzen sind sehr oft Narben der Geschichte, vor allem, wenn sie sich im Laufe der Jahrhunderte hin und her bewegt haben, wie das etwa hierzulande insbesondere der Fall ist für meine Heimat, den deutschsprachigen Teil Belgiens, der bis zum Versailler Vertrag zu Deutschland gehört hat. Solange wir es nicht schaffen, diese Grenzen zu Nahtstellen für den europäischen Zusammenhalt umzufunktionieren, werden wir nicht wirklich voran kommen. An den Grenzen finden wir ein interessantes Laboratorium und einen starken Motor für die Fortentwicklung der europäischen Integration. Das gilt sowohl für die alten EU-Binnengrenzen – an einer solchen befinden wir uns hier in der Euregio Maas-Rhein -, als auch für die neuen EU-Binnengrenzen – etwa an der deutsch-polnischen Grenze.
In Eupen ist heute eine Delegation aus dem Landkreis Vorpommern-Greifswald zu Gast, mit dem die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens seit über 20 Jahren enge freundschaftliche Beziehungen unterhält. Diese Zusammenarbeit hat drei Kreisgebietsreformen in Mecklenburg-Vorpommern und drei Föderalismusreformen in Belgien überlebt. Darauf sind wir sehr stolz. Dies hat die interregionale Zusammenarbeit zwischen unseren Grenzregionen im Osten unserer jeweiligen Staaten nicht einfacher, aber auf jeden fall viel spannender gemacht.
Augenblicklich geschieht sehr viel Interessantes an den alten und den neuen EU-Binnengrenzen. Dies gilt übrigens auch für die EU-Außengrenzen, die in der Vergangenheit manchmal sehr viel durchlässiger waren, als sie dies heute sind und aus vielerlei, insbesondere sicherheitspolitischen Gründen auch sein müssen. Insgesamt gibt es etwa 200 Grenzregionen in Europa, wo grenzüberschreitend zusammengearbeitet wird und wo wie in einem Laboratorium ungemein spannende Dinge geschehen. Wenn Dinge dort nicht klappen, klappen sie anderswo in Europa auch nicht. Wenn sie dort möglich sind, kann man sie in den meisten Fällen auch anderswo anwenden.
Letztendlich kommt es darauf an, dass die Voraussetzungen für erfolgreiche grenzüberschreitende Zusammenarbeit vorhanden sind. Als erstes muss man dürfen. Das ist nicht immer evident. Außerdem muss man wollen, nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch dann, wenn man entscheiden muss, an welcher Seite der Grenze eine konkrete Betriebsansiedlung geschieht, die man gemeinsam irgendwo in der Welt akquiriert hat. Und dann muss man es auch noch können. Das hat sehr viel mit „Interkultureller Kommunikationskompetenz“ zu tun sowie mit der Fähigkeit, die Sprache des Nachbarn zu verstehen und seine Lebensgewohnheiten ebenso wie seine Lebenssituation und die administrativen Vielfältigkeiten dies- und jenseits der Grenzen zu begreifen.
All das ist eine Chance für Europa. Gerade an den Grenzen sollten wir diese resolut ergreifen. Der Umgang mit Grenzen ist für die weitere Entwicklung der europäischen Integration von ganz besonderer Bedeutung und lässt sich in vielfältiger Weise mit dem Thema Sicherheit verknüpfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!