Reden

Neujahrsansprache 2013


Neujahrsansprache von Karl-Heinz Lambertz,
Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens

Reden-2013-01-01-Neujahrsansprache (316.8 KiB)

Liebe Bürgerinnen und Bürger der Deutschsprachigen Gemeinschaft,

vielleicht haben Sie sich in den vergangenen Tagen den einen oder anderen Rückblick auf das Jahr 2012 im Fernsehen angeschaut.

Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen, mörderischen Amokläufen, zerstörerischen Naturkatastrophen, dramatischen Schiffs- und Busunglücken, Bilder von tausendfachem Tod und unsäglichem Leid erinnern uns daran, dass auch 2012 vieles auf unserem Planeten Erde nicht in Ordnung war und dass uns von einem wirklich verantwortungsbewussten Umgang mit dessen begrenzten Ressourcen und den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten menschlicher Kreativität noch ein weiter Weg trennt.
Bei den Jahresrückblicken war auch oft die Rede von Europa und der Europäischen Union.

Ihr wurde 2012 sogar der Friedensnobelpreis verliehen.

Und dies aus guten Gründen.

Die europäische Integration ist aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstanden und hat uns Europäern eine bisher nie da gewesene Periode des Friedens und des Wohlstandes gebracht.

Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU zurzeit in einer tiefen Krise steckt und in vielen Menschen weniger Hoffnung auf eine bessere Zukunft als vielmehr Angst vor einer Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hervorruft.

Das muss dringend anders werden.

Die Welt ist dabei, sich neu zu ordnen.

Zukunftsforscher weisen darauf hin, dass die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts von folgenreichen Megatrends geprägt sein wird, zu denen der demographische Wandel, die Ressourcenknappheit, die Klimaveränderung und die Globalisierung gehören.

Und erschwerend kommen noch die Auswirkungen der weltweiten Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise hinzu, die noch lange nicht bewältigt sind.

Wir stehen, insbesondere in Europa, vor strukturellen Veränderungen, die uns zwingen werden, von liebgewonnenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen und neue Wege zu beschreiten, wenn wir gleichzeitig unsere Wirtschaftsstärke erhalten und den sozialen Zusammenhalt festigen wollen.

Zum Erreichen dieses Ziels gibt es keine Zauberformel.

In Wirklichkeit sind die Dinge vielschichtig und nur mit einem komplexen Maßnahmenbündel verbesserbar.

Nachhaltige Lösungsstrategien setzen darüber hinaus die Bereitschaft zu einem Mentalitätswandel voraus, zu dem zweifellos auch der Abschied von unserem bisherigen Wachstumsmodell gehört.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

all dies betrifft ebenfalls die Deutschsprachige Gemeinschaft und stellt uns alle vor große Herausforderungen.

Erfolgreiches Gestalten und Regieren in gesellschaftlich, wirtschaftlich und finanziell schwierigen Zeiten wird auch hierzulande nicht einfacher werden, in den Gemeinden ebenso wenig wie in der Gemeinschaft.

Und es wäre völlig falsch, irreführend und sogar gefährlich, den Eindruck zu erwecken, dank unserer bereits vorhandenen und demnächst noch erheblich erweiterten Autonomie könnten wir diese Probleme alle selbst, alleine und aus eigener Kraft lösen.

Wir müssen sehr genau unterscheiden zwischen dem, was wir durch eigenes Handeln beeinflussen können, und dem, was auf anderen Ebenen in unserem Land, in Europa und in der Welt entschieden werden muss.

Dennoch sollten wir unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nicht unterschätzen.

Wenn wir es wirklich wollen und systematisch anpacken, können wir auch auf Gemeinde- und Gemeinschaftsebene Vieles leisten, bewegen, bewahren und verbessern.

Und wenn dabei Gemeinde- und Gemeinschaftsverantwortliche eng zusammenarbeiten und möglichst viele Synergien entfalten, können wir die Wirksamkeit unseres Handelns noch erheblich steigern.

Dies gilt übrigens auch für die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn jenseits der Sprach- und Staatsgrenzen.

Dazu werden wir in den kommenden drei Jahren eine ganz besondere und nur alle fünfzehn Jahre wiederkehrende Gelegenheit haben.

Anfang 2013 übernimmt die DG turnusmäßig den Vorsitz der Euregio Maas-Rhein.

Dies bietet uns eine außerordentlich interessante Gelegenheit, in unserem Grenzraum, 20 Jahre nach Wegfall der Binnengrenzen, bestehende Synergien weiter auszubauen, neue auf den Weg zu bringen und einen grenzüberschreitenden, integrierten Verflechtungsraum für 4 Millionen Menschen zu schaffen.

In 2013 wird sich auch das Schicksal der 6. Staatsreform entscheiden, die im Vorfeld der Regierungsbildung von Dezember 2011 beschlossen worden war und deren konkrete Umsetzung in den kommenden Monaten ansteht.

Sie wird auch für die DG weitreichende Folgen haben und deren Handlungsmöglichkeiten bedeutend erweitern.

Dies gilt übrigens auch für die zusätzlichen Zuständigkeiten in Sachen Raumordnung, Wohnungswesen, Straßenbau sowie Gemeinde- und Provinzangelegenheiten, die von der Wallonischen Region an die Deutschsprachige Gemeinschaft übertragen werden sollen.

Ist unsere Gemeinschaft richtig aufgestellt, um die kommenden Herausforderungen erfolgreich zu meistern?

Ist sie nicht nur bereit und gewillt, sondern auch in der Lage, als kleine Region mit Gesetzgebungshoheit – als Kleingliedstaat – einen spürbaren und substantiellen Beitrag zur Festigung des Standorts Ostbelgien und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen unserer Heimat zu leisten?
Der Rückblick auf ein halbes Jahrhundert erfolgreicher Autonomiegestaltung hilft zwar bei der Beantwortung dieser Fragen, erlaubt jedoch keine endgültige Prognose über die Zukunftstüchtigkeit der Deutschsprachigen Gemeinschaft.

Bei der Suche nach einer Antwort lohnt es sich, den Blick über den ostbelgischen Tellerrand zu richten und sich erfolgreiche Regionen anderswo in Europa etwas näher anzuschauen.

Dabei gelangt der aufmerksame Beobachter schnell zu der Erkenntnis, dass der Erfolg einer Region ganz entscheidend davon abhängt, ob sie gleichermaßen nach innen tief verwurzelt und nach außen gut vernetzt ist – gleich einem kräftigen Baum, der seine Substanz dank seiner Wurzeln aus der Erde und dank seiner Krone aus der Atmosphäre zieht.

Die DG hat alles Interesse daran, sich diese grundlegende Erkenntnis zu eigen und zur Richtschnur ihres Handelns zu machen.

Erfolgreich Zukunft gestalten setzt voraus, die eigenen Stärken und Schwächen genau zu kennen, um die einen aus- und die anderen abzubauen.

Mit dem Ausarbeiten und Umsetzen des REK, des Regionalen Entwicklungskonzeptes, haben wir seit 2008 bedeutende Fortschritte erzielen und bereits Beachtliches verwirklichen können.

Diesen Prozess wollen wir in den kommenden Jahren konsequent fortsetzen und im Hinblick auf ein zweites Umsetzungsprogramm der Strategie „Ostbelgien leben 2025“ weiter vorantreiben.

Zwischen dem REK I mit seinen 16 Zukunftsprojekten und dem REK II soll und muss es einen nahtlosen Übergang geben.

Da darf keine Zeit verloren gehen.

Da müssen bereits heute die Taten von morgen und übermorgen systematisch vorbereitet werden.

Dasselbe gilt übrigens auch für den Paradigmenwechsel in der Infrastrukturpolitik der Deutschsprachigen Gemeinschaft.

Nachdem wir den in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstandenen Infrastrukturstau seit 1999 dank eines Investitionsvolumens von insgesamt 500 Millionen Euro in über 2.200 Projekte systematisch abgebaut haben, wollen wir uns nun zielstrebig und intensiv mit der energetischen Sanierung des Infrastrukturbestandes beschäftigen und das Konzept des nachhaltigen Bauens einführen, in dessen Mittelpunkt die gesamte Lebensdauer und nicht nur das Errichten oder Renovieren von Gebäuden steht.

Bei der Suche nach Zukunftschancen und Standortsnischen sollten wir nicht davor zurückschrecken, neue und innovative Wege zu beschreiten.

Mit ihrer überschaubaren Größe und ihren hochrangigen Zuständigkeiten erweist sich unsere Gemeinschaft etwa als besonders geeignetes Laboratorium für Initiativen im Bereich der regionalen Kreislaufwirtschaft.

Dies werden wir in den kommenden Monaten am Beispiel des Energieleitbildes und der Vermarktung regionaler Produkte und Dienstleistungen verdeutlichen können.

Dies ließe sich auch auf dem Gebiet der regionalen Komplementärwährungen und der Finanzierung regionaler Energieeffizienzprojekte mit Mitteln aus den regionalen Sparaufkommen fortsetzen, so wie es etwa Prof. Gege vor zwei Jahren anlässlich einer Veranstaltung der Eupener Juniorenkammer angeregt hat.

Ebenso eignet sich unsere Gemeinschaft als Standort flächendeckender Innovationsansätze.

Genau das ist uns in den letzten Jahren im Bereich der Sozial-, Tourismus- und Bildungspolitik immer wieder gelungen.

Genau das liegt den Vereinfachungen im Bereich der Förderung des kommunalen Straßenbaus oder der Gehaltsstrukturen im Unterrichtswesen zu Grunde.

Genau das geschieht derzeit mit der Einführung eines computergestützten Geschichtsunterrichtes in allen Sekundarschulen, der im Rahmen eines europaweiten Forschungsprojektes wissenschaftlich begleitet wird und für den die Regierung in Anbetracht seiner Bedeutung auch in Zeiten knapper Finanzen die erforderlichen Mittel freigemacht hat, damit der notwendige Einsatz von iPads oder sonstigen Tabletts für die beteiligten Schüler kostenneutral bleibt.

Der Einstieg in das REK II und in den infrastrukturellen Energieeffizienzschub sind spannende Herausforderungen, denen sich die Regierung auch in schwierigeren Zeiten stellen will und bei deren Verwirklichung sie uneingeschränkt und vorbehaltlos auf Zusammenarbeit setzt:

  • Auf die Zusammenarbeit mit Partnern in Belgien und anderswo in Europa, von deren Erfahrungen wir lernen können;
  • Auf die Zusammenarbeit mit den Gemeinden, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten vor denselben Aufgaben stehen und mit denen wir den Dialog während der im Frühjahr anstehenden Runde durch die neun Gemeinden unseres Sprachgebietes fortsetzen und vertiefen wollen;
  • Auf die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, die auch in Ostbelgien eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe wahrnehmen und die innerhalb des WSR ergebnisorientiert kooperieren sowie mit der Regierung in ständigem Dialog stehen;
  • Auf die Zusammenarbeit mit allen Institutionen, Einrichtungen und Vereinigungen in unserer Gemeinschaft, die sich besonderen Aufgaben widmen und sich in mannigfaltiger Art und Weise für das Allgemeinwohl einsetzen;
  • Und nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit mit allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die in unserer kleinen und überschaubaren Gemeinschaft – einer echten Mitmachgemeinschaft – persönliches Engagement entwickeln und selbst Initiativen ergreifen wollen.

Dazu gibt es nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, die zweifellos in Zukunft noch besser genutzt werden können.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien im Namen der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens ein erfolgreiches und glückliches Neues Jahr 2013!